Der Zusammenbruch
auseinandergebracht und ihm Silvine genommen hatte – die ganze gemeine Geschichte, all der scheußliche Schmutz, unter dem er noch litt. Er hatte hinlaufen und ihn erwürgen mögen. Aber der Mensch schritt schon auf der andern Seite der Gewehrpyramiden hin und verschwand in der Nacht.
»Oh! Goliath!« murmelte er, »nicht möglich! Also da drüben bei den andern ist er... Wenn ich den mal treffe!«
Er machte eine drohende Bewegung gegen den von Finsternis umhüllten Horizont, den weiten, blaßvioletten Osten, der für ihn Preußen darstellte. Es wurde still; sie hörten abermals den Zapfenstreich, der sich ganz in der Ferne am andern Ende des Lagers in hinsterbender Zartheit inmitten der undeutlich werdenden Umgebung verlor.
»Donnerwetter!« rief Honoré, »ich komme schön in die Klemme, wenn ich den Appell verpasse... Gute Nacht zusammen!«
Und nachdem er Weiß noch ein letztes Mal die Hand gedrückt hatte, sauste er in großen Sätzen auf den Hügel zu, auf dem der Park der Reserveartillerie lag, ohne noch einmal ein Wort über seinen Vater zu sagen, ohne eine Botschaft an Silvine, deren Name ihm auf den Lippen brannte.
Wieder gingen Minuten hin, und links, nach der zweiten Brigade hinüber, blies ein Horn zum Appell. Ein anderes antwortete näher. Allmählich bliesen sie alle zusammen mit vollen Kräften das klangreiche Signal, bis Gaude, der Hornist der Kompanie, sich auch dazu entschloß. Er war ein großer,magerer, trauriger Bengel, ohne ein Spierchen von Bart, immer schweigsam, und blies seine Signale mit Sturmesatem.
Dann fing der Sergeant Sapin, ein kleiner, verkniffener Mensch mit großen, ausdruckslosen Augen, den Appell an. Seine dünne Stimme stieß die Namen heraus, während die Soldaten in allen Tonfarben vom Cello bis zur Flöte herauf antworteten. Aber es kam zu einer Pause.
»Lapoulle!« wiederholte der Sergeant sehr laut.
Niemand antwortete. Und Jean mußte sich erst nach dem Haufen von grünem Holz hinstürzen, den der Füsilier Lapoulle, von seinen Kameraden angestachelt, anzuzünden sich abmühte. Jetzt lag er platt auf dem Bauch auf der Erde und blies mit brennendem Gesicht den Holzrauch vor sich her, der immer schwärzer wurde.
»Zum Donnerwetter, laß das doch! Antworte beim Appell!« Lapoulle stand ganz verdutzt auf, schien zu begreifen und brüllte sein: Hier! wie ein Wilder, so daß Loubet darüber auf den Hintern fiel, so ulkig kam es ihm vor. Pache, der mit seiner Näherei fertig war, antwortete kaum hörbar mit einem Seufzer, als ob er betete. Chouteau warf das Wort verächtlich hin, ohne auch nur aufzustehen, und streckte sich wieder aus.
Währenddessen wartete der diensttuende Leutnant Rochas unbeweglich in ein paar Schritten Entfernung. Als nach Schluß des Appells der Sergeant Sapin ihm melden wollte, daß niemand fehle, zeigte er so mit dem Kinn auf Weiß, der immer noch mit Maurice redete, und brummte in den Bart: »Aber da ist jemand zu viel; was macht der Mann da, der Spießer?«
»Erlaubnis vom Herrn Oberst, Herr Leutnant«, glaubte Jean, der es gehört hatte, erklären zu müssen.Rochas zuckte wütend die Achseln und ging, ohne ein Wort zu sagen, wieder an den Zelten entlang, um auf das Löschen der Feuer zu warten; und Jean, dem die Beine vom Tagesmarsch wie zerbrochen waren, setzte sich dicht bei Maurice nieder, dessen Worte zunächst nur wie ein Summen zu ihm herübertönten, ohne daß er sie verstand, denn er selbst war in dunkle, auf dem Grunde seines dicken, langsam arbeitenden Gehirns kaum gestaltannehmende Träume versunken.
Maurice war für den Krieg, er hielt ihn für unvermeidlich, für den Bestand der Völker sogar notwendig. Das hatte sich ihm aufgedrängt, seitdem er sich mit dem Gedanken über Entwicklung abgab, mit der Entwicklungslehre, die damals die wissenschaftlich gebildete Jugend leidenschaftlich erregte. Ist denn nicht das Leben in jeder Sekunde ein Kampf? Ist denn nicht sogar der Naturzustand fortgesetzter Kampf, der Sieg des Anpassungsfähigsten, durch Betätigung unterhaltene und erneuerte Kraft, das Leben aus dem Tode immer wieder neugeboren? Und er erinnerte sich des mächtigen Aufschwungs, der ihn gepackt hatte, als ihm der Gedanke gekommen war, Soldat zu werden, zum Kampf an die Grenze zu eilen. Vielleicht wollte das Frankreich des Plebiszits gar nicht den Krieg, als es sich dem Kaiser in die Hände lieferte. Vor acht Tagen hatte er selbst ihn noch für schlecht und dumm erklärt. Man redete von der Bewerbung eines deutschen
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