Der Zusammenbruch
Prinzen um den spanischen Thron; in der allmählich entstehenden Verwirrung schien jedermann unrecht zu haben, so sehr, daß kein Mensch mehr wußte, von wessen Seite denn die Herausforderung kam, und daß allein das Unvermeidliche bestehen blieb, das verhängnisvolle Gesetz, das zu gegebener Stunde ein Volk auf das andere hetzt. Aber ein großer Schauder war über Paris gegangen; er sah wieder den glühendenAbend, die Mengen, die die Boulevards mit sich führten, die fackelschwingenden Massen, die »Nach Berlin! Nach Berlin!« schrien. Vor dem Rathause sah er noch, wie ein schönes großes Weib, auf einem Kutschbock stehend, mit dem Profil einer Königin, in die Falten einer Fahne gehüllt, die Marseillaise sang. War das denn gelogen? Schlug da nicht das Herz von Paris? Und dann folgten wie immer bei ihm nach dieser nervösen Aufregung Stunden schrecklichen Zweifels und Widerwillens: die Ankunft in der Kaserne, der Adjutant, der ihn empfangen hatte, der Sergeant, der ihn einkleiden ließ, die verpestete und von Schmutz starrende Stube, die Kameradschaft mit den neuen, groben Genossen, der gedankenlose Dienst, der ihm die Glieder zerbrach und das Gehirn so schwer machte. In weniger als einer Woche aber hatte er sich daran gewöhnt und empfand weiter keinen Widerwillen mehr. Und wieder hatte ihn die Begeisterung gepackt, als das Regiment endlich nach Belfort abging.
Vom ersten Tage an war Maurice sicher gewesen, daß sie siegen würden. Der Plan des Kaisers war ihm klar: vierhunderttausend Mann an den Rhein werfen, den Fluß überschreiten, ehe die Preußen fertig wären, und Nord- und Süddeutschland durch einen kräftigen Stoß trennen, und durch einen in die Augen springenden Erfolg Österreich und Italien zwingen, gemeinsame Sache mit Frankreich zu machen. War nicht einen Augenblick das Gerücht umhergelaufen, das siebente Korps solle sich in Brest einschiffen, um in Dänemark zu landen und so eine Seitenbewegung auszuführen, die Preußen zwingen würde, eine seiner Armeen nicht von der Stelle zu rühren? Es sollte überrascht, von allen Seiten übermannt, in wenigen Wochen vernichtet werden. Ein einfacher militärischer Spaziergang von Straßburg nach Berlin.Aber seit dem Aufenthalt in Belfort quälte ihn die Unruhe. Das siebente Korps, dem die Überwachung der Lücke im Schwarzwald oblag, war dort in einer unsagbaren Unordnung eingetroffen, unvollzählig, mit Mangel an allem. Die dritte Division erwartete man erst aus Italien; die zweite Kavalleriebrigade blieb aus Furcht vor einer Bewegung im Volke in Lyon; und drei Batterien hatten sich verkrümelt, man wußte nicht wohin. Dann ergab sich ein ganz ungewöhnlicher Notstand: die Magazine von Belfort, die alles liefern sollten, waren leer: weder Zelte noch Kochgeschirre, weder Flanellbinden noch Medizinkisten, weder Feldschmieden noch Spannfesseln waren vorhanden. Kein Krankenpfleger und kein Arbeiter war da. Im letzten Augenblick kam man dahinter, daß dreißigtausend für die Instandhaltung der Gewehre unbedingt notwendige Ersatzstücke fehlten; und es mußte ein Offizier nach Paris geschickt werden, der fünftausend mühsam zusammenraffte und zurückbrachte. Was ihn auf der andern Seite ängstigte, war die Untätigkeit. Seit zwei Wochen standen sie nun da; warum gingen sie nicht vor? Er fühlte sehr wohl, daß jeder Tag des Wartens eine Möglichkeit bedeute, den Sieg zu verlieren. Und vor dem Plane seines Traumes reckte sich die Wirklichkeit der Durchführung dessen empor, was er später erfahren sollte, was er jetzt nur angstvoll und dunkel ahnte: die sieben an der Grenze von Metz bis Bitsch und Bitsch bis Belfort entlang gestaffelten Armeekorps verzettelt; die Sollbestände überall unvollzählig, die vierhunderttausend Mann auf zweihundertdreißigtausend zurückgeschraubt; die Generäle voll Eifersucht gegeneinander, jeder einzelne fest entschlossen, sich den Marschallstab zu holen, ohne dem andern zu helfen; ein schrecklicher Mangel an Voraussicht; die Mobilmachung und der Aufmarsch,um Zeit zu gewinnen, zu gleicher Zeit vollzogen und zu einem unentwirrbaren Durcheinander führend; endlich die langsame, von oben herunterkommende Lähmung, der Kaiser krank, unfähig, einen raschen Entschluß zu fassen, was sich schließlich doch der ganzen Armee mitteilen mußte, sie zur Unordnung, zur Vernichtung führen, sie den schlimmsten Unfällen entgegentreiben mußte, ohne daß sie sich verteidigen konnte. Und trotzdem – über dieses dumpfe Unbehagen der
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