Der Zusammenbruch
Jungen, wie er ihn so oft genannt hatte, aber er wagte es nicht. Er sah sich ja mit seinem Blute bedeckt und wich vor dem Schrecken des Geschickes zurück. Ach, dieser Tod beim Zusammenbruch einer ganzen Welt! Am letzten Tage, unter den Trümmern der verröchelnden Kommune war auch dies Opfer noch notwendig geworden! Das arme Wesen war dahin, aus Hunger nach Gerechtigkeit in der letzten Zuckung des schwarzen Traumes, der ihn gefaßt hatte, dieser großartigen, ungeheuerlichen Auffassung von der Notwendigkeit der Zerstörung der alten Gesellschaft, vom Brande von Paris, vom Umpflügen und Reinigen des Bodens, damit aus ihm der Musterzustand eines neuen, goldenen Zeitalters hervorsprießen könne.
Voller Angst wandte sich Jean wieder nach Paris um. Zum schönen Beschluß dieses strahlenden Sonntags erhellte die Sonne mit ihren schrägen Strahlen die Riesenstadt mit einem glühendroten Leuchten. Man hätte sagen mögen, eine Sonne von Blut über einem schrankenlosen Meere. Die Scheiben blitzten in Tausenden von Fenstern wie von einem unsichtbaren Hauche entzündet; die Dächer glühten auf wie brennende Kohlenhaufen; gelbe Mauerflächen, hohe Baudenkmäler mit ihrer Rostfarbe flammten mit den tausend Funken eines plötzlich entzündeten Reisigfeuers in der Abendluft empor. War das nicht die Schlußgarbe, der Riesenpurpurstrauß, ganz Paris brennend wie ein mächtiges Reisigbündel,ein uralter, ausgetrockneter Wald, der mit einem Male unter Flämmchen und Funkensprühen in die Luft ging? Die Feuersbrunst dauerte an; mächtige braunrote Rauchwolken stiegen immer noch empor; ein gewaltiges Geräusch war zu hören, vielleicht das letzte Röcheln der in der Lobaukaserne Erschossenen, vielleicht das Vergnügen von Frauen und das Lachen von Kindern, die nach einem hübschen Spaziergange vor einer Weinstube saßen und im Freien aßen. Aus all den geplünderten Häusern und öffentlichen Gebäuden, aus den aufgerissenen Straßen, aus all den Trümmern und Leiden grollte das Leben immer noch empor während des flammenden Unterganges eines königlichen Gestirns, in dessen Glut Paris sich verzehrte.
Nun kam ein sonderbares Gefühl über Jean. Es schien ihm, als erhebe sich beim langsamen Sinken des Tageslichtes über der in Flammen stehenden Stadt bereits ein Strahlenkranz. Wohl war dies das Ende von allem, die Erbitterung des Schicksals, ein Zusammenströmen von so viel Unheil, wie es noch nie ein Volk erlebt hatte: die ewigen Niederlagen, der Verlust der Provinzen, die Zahlung der Milliarden, der schrecklichste aller zum Schluß in Blut ertränkten Bürgerkriege, Leichen und Trümmer nach ganzen Stadtvierteln, kein Geld mehr, keine Ehre mehr, eine ganze Welt, die wieder aufgebaut werden mußte! Sein Herz blieb zerrissen darin zurück; Maurice, Henriette, sein zukünftiges glückliches Leben riß der Sturm mit fort. Und doch stieg jenseits dieses noch brüllenden Ofens eine lebhafte Hoffnung wieder empor auf dem Hintergrunde eines mächtigen, ruhigen Himmels von königlicher Klarheit. Das war die sichere Verjüngung der ewigen Natur, die ewige Menschheit, die verheißene Wiedergeburt für den, der hilft und arbeitet, der Baum, der mächtigejunge Schösse treibt, nachdem man ihm einen verrotteten Ast abgeschnitten hat, dessen giftiger Saft alle Blätter gelb werden ließ.
Schluchzend wiederholte Jean:
»Leben Sie wohl!«
Henriette hob den Kopf nicht; ihr Gesicht blieb zwischen ihren gefalteten Händen verborgen.
»Leben Sie wohl!«
Das verwüstete Feld lag brach, das ausgebrannte Haus lag darnieder; und als der Allerniedrigste und am tiefsten vom Schmerz Erfüllte zog Jean der Zukunft entgegen, zu der großen, rauhen, Arbeit, ein ganzes Frankreich wieder aufzubauen.
ebook Erstellung - Februar 2010 - TUX
Ende
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