Der zweite Gral
ärmlich wirkenden Hafen zu.
Die Mannschaft erwachte zum Leben. Während die Harmattan beidrehte und sich mit der Breitseite immer näher an die algenbewachsene Kaimauer heranschob, stellten zwei Besatzungsmitglieder sich an Bug und Heck auf. Sie griffen nach den Leinen, sprangen über die Reling an Land und vertäuten die Jacht an rostigen, im Stein verankerten Stahlösen. Als sämtliche Leinen gespannt waren, gab der Motor ein letztes Röcheln von sich; dann lag die Harmattan ruhig in der sanften Uferdünung.
Begleitet vom Geschrei der Möwen betrat Mats Leclerc mit einem Koffer in der Hand den Pier. Ihm folgten fünf Männer in kurzärmligen Hemden und Stoffhosen. Auch sie trugen Koffer bei sich, weil ihr Aufenthalt mehrere Tage dauern würde. Offiziell handelte es sich bei den Männern um Ingenieure, die Scheich Assad von der anderen Seite des Meeres herübergeschickt hatte. Aber das war nur Tarnung. In Wahrheit waren die fünf Männer wesentlich mehr als gewöhnliche Ingenieure. Sie waren Leclercs engste Vertraute.
Mehrere Kinder, die die Ankunft der Jacht bemerkt hatten, strömten herbei, ebenso einige Frauen und ein Greis mit Stock. Sie alle umringten die Ankömmlinge mit lachenden Gesichtern und fröhlichem Palaver.
Leclerc verstand nicht viel von dem, was diese Menschen sagten. Er beherrschte ein paar Brocken Kwa, Dinka und Nuba – drei der mehr als fünfzig Sprachen im Sudan. Der hiesige Dialekt jedoch gehörte nicht zu seinem Repertoire, und Arabisch, die offizielle Landessprache, beherrschten in diesem Dorf nur die wenigsten. Aqiq war wie eine Oase in der Wüste, abgeschnitten vom Rest der Welt.
Gleichwohl wusste Leclerc, weshalb die Dorfbewohner ihnen einen so warmherzigen Empfang bereiteten. Vor einem Jahr hatte Scheich Assad mit der sudanesischen Regierung einen Vertrag geschlossen und eine Ölraffinerie unweit von Aqiq errichtet. Im Gegenzug wurde der Sudan am Gewinn beteiligt. In Zeiten, in denen der Fischfang kaum noch seinen Mann, geschweige denn eine ganze Familie ernähren konnte, hatte Assad Arbeitsplätze geschaffen. Mit der Errichtung der Raffinerie war wenigstens ein kleines bisschen Wohlstand in Aqiq eingekehrt. Seither galt Scheich Assad als Gönner.
Umringt von den Dorfbewohnern bahnten Mats Leclerc und seine fünf Begleiter sich den Weg zur Straße. Nach wenigen Minuten hielt eine schwarze Stretch-Limousine mit getönten Scheiben bei ihnen. Der Chauffeur half, das Gepäck einzuladen. Dann machten Leclerc und seine Begleiter es sich im Fond bequem, und die Limousine fuhr davon, wobei sie eine dünne, hellbraune Staubwolke hinter sich her zog.
Durchs Fenster blickte Leclerc noch einmal zum Pier zurück. In wenigen Tagen würde die Harmattan sie wieder abholen. Bis dahin würden sie in der Raffinerie arbeiten, hatten aber auch noch etwas anderes zu erledigen. Etwas, das illegal, in gewissem Sinne sogar grausam war, auch wenn es im Dienst der Wissenschaft geschah. Sie mussten die Fracht besorgen. Beim letzten Versuch vor zwei Wochen war ihnen jemand dazwischengekommen – Derek Baxter alias Anthony Nangala. Diesmal durfte nichts schief gehen. Zu viel stand auf dem Spiel.
17.
E rst während des Flugs in den Sudan wurde Emmet Walsh die Tragweite des Angriffs auf Leighley Castle voll bewusst. Zuvor hatte der Schock den Schmerz gelindert. Jetzt, da er Zeit zum Nachdenken fand, begann die Wunde in seiner Seele ungehemmt zu bluten.
Rodrigo Escobar, Ole Asmus, William Doyle und all die anderen waren tot. Sie hatten sich beim Angriff in der Halle aufgehalten. Wen die Trümmer nicht erschlagen hatten, war in den Flammen umgekommen. Noch immer konnte Emmet die Hitze auf der Haut spüren und die Schreie seiner sterbenden Brüder und Schwestern hören.
Er seufzte und schaute aus dem Flugzeugfenster, damit sein Sitznachbar nicht seine glasigen Augen bemerkte.
Er würde jeden von ihnen schmerzlich vermissen, vor allem Donna Greenwood. Bislang hatte er versucht, den Gedanken an sie zu verdrängen, weil ihm der Verlust unerträglich schien. Doch ihr hübsches Antlitz mit der Goldrandbrille drängte sich ihm nun immer stärker ins Bewusstsein, sodass er den Schmerz nicht länger verleugnen konnte.
Die Stimme des Kapitäns teilte über Lautsprecher mit, dass die Maschine in wenigen Minuten auf dem internationalen Flughafen von Khartum landen würde. Alle Passagiere wurden gebeten, das Rauchen einzustellen und den Sitzgurt festzuschnallen. Emmet Walsh tat es mechanisch wie ein Roboter. Seine
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