Der zweite Gral
buchen?«
Das Mädchen sah im Computer nach und nickte. »Aber nicht länger als bis Samstagmorgen. Um spätestens zehn Uhr müssen Sie auschecken.«
»In Ordnung.« Emmet lächelte. »Hauptsache, ich bekomme die schönste Aussicht, die Port Sudan zu bieten hat.«
18.
Isfahan, Iran
L ara Mosehni betrat ihre Wohnung, stellte den Koffer im Schlafzimmer ab und ließ sich aufs Bett fallen. Der Flug von Glasgow über London nach Teheran und die anschließende Zugfahrt, die sie 300 Kilometer durchs Land geführt hatte, waren anstrengend gewesen. Außerdem steckte ihr der Anschlag auf Leighley Castle noch in den Knochen. Vor allem die Selbstvorwürfe zermürbten sie – die quälende Frage, ob die Zerstörung der Burg und der Tod ihrer Gesinnungsgenossen auf ihr Konto gingen, weil sie einen Verfolger nach Schottland geführt hatte. Sie würde sich diesen Fehler nie verzeihen können.
Sie starrte an die rissige Decke und merkte, wie ihre Augen sich mit Tränen füllten. Dabei wusste sie, dass sie eigentlich nicht Trauer, sondern Angst verspüren sollte. Hier in Isfahan war sie nicht sicher. Zwar lag das Gefängnis von Anarak gut 150 Kilometer weiter östlich, auf der anderen Seite des Kuhrudgebirges, und die Polizeibehörden kannten ihre Adresse nicht, aber die Ausbruchaktion in der vergangenen Woche zog gewiss weite Kreise.
Bei ihrer Verhaftung hatte man sie fotografiert. Deshalb beschloss Lara, die Zeitungen der letzten Tage durchzublättern, die sich vor ihrer Wohnungstür stapelten. Erleichtert stellte sie fest, dass man ihr Bild nicht veröffentlicht hatte. Dennoch musste sie vorsichtig sein. Falls man sie fasste und wieder einsperrte, würde sie mit aller Härte bestraft werden.
Sie verdrängte den Gedanken an Vergewaltigung, Folter, Verstümmelung und Tod und versuchte, sich wieder auf ihre Aufgabe zu konzentrieren. Sie war hier, weil sie ihren Verfolger suchte. Den Asiaten. Wenn er ihr auf der Spur gewesen war, hatte er sie vermutlich schon eine ganze Weile beobachtet. Und das wiederum hieß, dass er irgendwo in der Nähe ihrer Wohnung ein Quartier bezogen haben musste. Die Häuser auf der gegenüberliegenden Straßenseite schienen Lara für eine heimliche Observierung am besten geeignet. Dort wollte sie mit der Suche beginnen. Ein Japaner oder Chinese musste in einem iranischen Arbeiterviertel auffallen.
Die Häuserfronten in dieser Gegend wirkten wie armseliges Flickwerk. Kaum eine Fassade, von der nicht der Putz bröckelte, kaum ein Dach, auf dem nicht Ziegel fehlten. Stromleitungen führten wild verzweigt von einem Haus zum anderen. Jeder Elektriker der westlichen Hemisphäre hätte sich mit Grausen abgewendet.
Die am Straßenrand parkenden Autos vervollkommneten das Bild der Verwahrlosung. Sie waren mit einer dicken Staubschicht bedeckt, zerbeult und verrostet, als stünden sie bereits seit ewigen Zeiten hier.
Der Geruch von gebratenem Fleisch lag in der Luft, und Lara lief das Wasser im Munde zusammen. Von irgendwoher ertönte die Stimme eines Muezzin. Kinder spielten auf der Straße mit einer Blechdose Fußball. Ein Abend wie viele.
Lara klingelte an der nächstbesten Tür. Eine schwarz gekleidete, dicke Frau mit verhülltem Gesicht öffnete. Nur ihre Augen waren zu sehen.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte sie auf Persisch.
Lara, selbst gebürtige Perserin, erklärte es ihr. Die Frau schüttelte den Kopf – sie hatte in dieser Gegend noch nie einen Asiaten gesehen.
Lara klingelte an diesem Abend noch an einem Dutzend weiterer Wohnungen. Doch jeder, den sie fragte, gab ihr dieselbe Antwort.
Was hatte das zu bedeuten? Dass der Asiat nie hier gewesen war? Oder dass er nur ein Meister seines Fachs war, ein Profi, der wusste, wie er sich unsichtbar machte?
Lara stand unentschlossen auf der Straße. Erneut stieg ihr der Duft von Gebratenem in die Nase. Sie beschloss, beim Essen über ihre nächsten Schritte nachzudenken.
Als sie sich auf den Weg zum Imbiss-Restaurant an der Straßenecke machte, bemerkte sie nicht, dass ein Stockwerk unter ihrer eigenen Wohnung ein Fenster offen stand. Hinter dem halb zugezogenen Vorhang saß ein alter Mann im Rollstuhl. Schweigend beobachtete er, wohin Lara ging.
19.
Port Sudan, Hotel Sea View
V on Zimmer 421 hatte man einen fantastischen Blick nach Osten, weit hinaus aufs Meer. Emmet Walsh stand auf seinem Balkon in der vierten Etage und genoss die abendliche Aussicht. Da die Sonne hinter dem Hotel unterging, warfen die Palmen und Häuser entlang der
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