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Der zweite Gral

Der zweite Gral

Titel: Der zweite Gral Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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hatten, umrundeten wir Jerusalem und stiegen hinauf zum Ölberg, wo alsbald mehrere Geistliche predigten. Vor allem Peter der Einsiedler gewann mit einer euphorischen Ansprache wieder die Herzen der Heerscharen und vereinigte sie zu Brüdern und Schwestern im Kampfe.
    Am 10. Juli wurden die beiden Belagerungstürme fertig gestellt. Am 13. Juli wagten die Kreuzfahrer den entscheidenden Vorstoß gegen Jerusalem. Langsam wurden die riesigen Belagerungstürme vorwärts gerollt, und weder Pfeile noch Steine, noch das griechische Feuer der Sarazenen vermochten ihnen etwas anzuhaben. Um sie in ihre endgültige Stellung zu bringen, mussten die Gräben unterhalb der Stadtmauern aufgeschüttet werden. Am Morgen des 15. Juli gelang es, einen der beiden Türme über den Graben zu schieben, und kurz bevor die Sonne den Zenit überschritt, konnte eine Brücke vom Turm zur Mauer geschlagen werden. Wenig später fielen die kampferprobten lothringischen Truppen unter Gottfrieds höchstpersönlicher Führung in die Stadt ein und öffneten das Säulentor für die Hauptmacht des Kreuzfahrerheers. Danach folgte das wohl grauenhafteste und unwürdigste Kapitel der christlichen Geschichte – das Blutbad, das ich bis zum heutigen Tag nicht vergessen kann.
    Die Mohammedaner erkannten, dass ihre Verteidigung durchbrochen war, und flohen nach dem Haram es-Sherif, dem Tempelplatz. Dort wollten sie sich im Felsendom und im Tempel Salomos verschanzen, der so genannten Moschee el-Aqsa. Andere zogen sich in den Davidsturm an der westlichen Ringmauer zurück. Doch wohin sie auch zu fliehen versuchten – die Kreuzritter fielen wie Wölfe über sie her, berauscht vom Sieg über die Ungläubigen. Sie stürmten durch die Straßen, plünderten Wohnhäuser und machten jeden nieder, der sich ihnen in den Weg stellte, ob Mann, Frau oder Kind. Das Morden dauerte vom Nachmittag bis zum nächsten Morgen. Gott sei mein Zeuge, wir wateten durch Leichen und Ströme von Blut, die uns bis zu den Knien reichten.
    Auch vor den Juden Jerusalems machten wir nicht Halt. Sie hatten sich geschlossen in ihre Hauptsynagoge zurückgezogen, doch da sie während der Belagerung auf Seiten der Sarazenen gekämpft hatten, brachte kein Kreuzritter Mitleid für sie auf. Die Synagoge wurde in Brand gesteckt. Alle Juden kamen in dem Feuer zu Tode.
    Wenn einst die Bauern als »Henker Christi« bezeichnet wurden, so verdienten wir diesen Namen erst recht. Die Soldaten, die Ritter, die Fürsten, vor allem aber die Mitglieder Sions, denn ohne sie wäre es niemals so weit gekommen.
    Am 22. Juli des Jahres 1099 versammelten sich die führenden Köpfe der Kreuzfahrer, um ein neues weltliches Oberhaupt der Heiligen Stadt zu krönen. Natürlich fiel die Wahl auf Gottfried, dafür hatte die Prieuré bereits gesorgt. Zwar lehnte er die Königswürde mit der Begründung ab, keine Krone aus Gold auf dem Haupt tragen zu wollen, wo Jesus Christus nur eine Dornenkrone getragen habe, doch das änderte nichts. Er nahm den Titel Advocatus Sancti Sepulchri an, Verteidiger des Heiligen Grabes. Als solcher war er der mächtigste Mann Jerusalems. Der Stamm Benjamin hatte sich sein Eigentum zurückgeholt, und die Dynastie der Merowinger war den einflussreichsten Häusern der bekannten Welt nun wieder ebenbürtig.
    Nur der Gral ließ sich nirgends finden. Schließlich wurde Gottfried der Suche überdrüssig, denn andere Probleme bedurften seiner Aufmerksamkeit. Er hatte genug damit zu tun, seine Machtstellung in Jerusalem zu festigen – die herannahenden Ägypter zurückzuschlagen und aufständische Widerstandsnester der Sarazenen zu bekämpfen. Er musste sich entscheiden, entweder seine Position zu sichern oder die Schale mit dem Blut Christi zu suchen, beides zugleich war unmöglich. Seine Wahl fiel auf die Politik, wohl weil sie ihm greifbarer erschien als der ferne Traum des Grals.
    Durch seine Abkehr von der Prieuré de Sion zog er den Zorn Peters auf sich, und im Orden wurde beschlossen, den Verräter zu bestrafen. Mit kleinen Dosen eines Giftkrauts, das man heimlich seinen Speisen beimengte, brachte man Gottfried langsam um. Für ihn selbst und seine Leibärzte sah es aus, als würde der Typhus ihn in seine Arme schließen.
    Um des Grals habhaft zu werden, beging die Prieuré jede Schandtat. Sie löste durch eine Intrige den Kreuzzug aus, ließ tausende ins Verderben rennen. Sie spann geschickt die Fäden, damit Jerusalem in ihren Besitz gelangte. Sie machte Gottfried zum Herrscher der Heiligen

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