Der zweite Gral
schnappte die Sporttasche, die sie neben sich abgestellt hatte. »Ist das Ihr gesamtes Gepäck?«
»Ja.«
»Dann schlage ich vor, dass ich Ihnen jetzt Ihr Hotel zeige.« Mit diesen Worten ging er voran. Von dem vermeintlichen Araber, der nur einen Meter weiter an der Info-Theke stand und etwas in sein Handy eintippte, nahmen weder er noch Lara Notiz.
Tom Tanaka betrachtete das Display auf seinem Handy – das Porträt von Lara Mosehnis Begleiter, das er soeben heimlich aufgenommen und per MMS an die Interpol-Zentrale in Lyon versandt hatte. Er kannte den Mann auf dem Bild nicht. Vielleicht konnten die Kollegen in Frankreich etwas über ihn herausfinden.
Tanaka kam sich lächerlich vor in seiner Tarnung, auch wenn er aussah wie viele Menschen hier am Flughafen. Er trug typisch arabische Herrenkleidung: ein knöchellanges, schneeweißes Gewand, den so genannten Dishdash, dazu als Kopfbedeckung eine schwarz-weiße Kefije, ein quadratisches Baumwolltuch, das zu einem Dreieck zusammengelegt und von einem Akal zusammengehalten wurde, einer dunklen Schnur aus gedrehtem Ziegenhaar. Um seine fernöstlichen Gesichtszüge zu kaschieren, hatte Tanaka sich einen buschigen, schwarzen Vollbart angeklebt. Seine Augen bedeckte eine altmodische Sonnenbrille mit Gläsern so groß wie Fernseherbildschirme.
Tom Tanaka klappte sein Handy zusammen und verstaute es in seinem Umhang. Dann griff er nach seinem Koffer und folgte Lara Mosehni und ihrem Begleiter nach draußen.
Im Mietwagen, einem betagten Mercedes, der jedoch in tadellosem Zustand war, konnten Emmet und Lara ihre Tarnung fallen lassen.
»Erzähl schon«, drängte Lara. »Ich bin gespannt wie ein Bogen. Was war los im Sudan? Aus den Andeutungen, die du mir auf dem Anrufbeantworter hinterlassen hast, konnte ich nicht schlau werden.«
Während sie stadteinwärts zum Hotel fuhren, berichtete Emmet ausführlich, was er in Wad Hashabi und Aqiq erlebt hatte.
»Ich nehme an, Anthony hat dieselbe Spur verfolgt«, schloss er. »Dabei ist er Scheich Assads Leuten zu nahe gekommen -und die haben getan, was sie am besten können: Sie haben ihn entfuhrt.«
»Nur, dass sie diesmal in New York zugeschlagen haben.«
»Genau. Und sie haben aus Anthony herausgepresst, für wen er arbeitet. Deshalb zerstörten sie Leighley Castle. Skrupellos genug wären diese Leute jedenfalls. Und die nötigen Mittel hätten sie auch gehabt. Hubschrauber und Waffen, meine ich. Assad ist sicher steinreich, oder nicht?«
»Vielleicht nicht ganz so reich, wie man es von einem Ölscheich erwarten würde«, antwortete Lara. »Aber er besitzt genug Geld, um eine eigene kleine Armee zu unterhalten.«
»Eine Privatarmee?« Emmet schüttelte ungläubig den Kopf. »Dann haben wir uns diesmal aber einen richtig schweren Brocken als Gegner ausgesucht.«
Tom Tanaka hielt gebührenden Abstand zu dem Fahrzeug, das er verfolgte. Er selbst saß in einem uralten Ford, den Interpol am Flughafen für ihn bereitgestellt hatte. Ein unauffälliger Wagen, der sich nahtlos ins hiesige Straßenbild einfügte.
Trotz heruntergekurbelter Fenster verwandelte die glühende Mittagssonne das Auto in einen Backofen. Der angeklebte Vollbart begann zu jucken, aber Tanaka wagte nicht, ihn abzureißen. Vielleicht benötigte er seine Tarnung später noch.
Seine Gedanken schweiften zurück. Der »Rosenschwert-Fall«, mit dem man ihn vor sechs Monaten betraut hatte, war selbst für einen langjährigen Interpol-Mitarbeiter wie ihn ungewöhnlich. Er jagte einen Verbrecherring, der auf der ganzen Welt agierte und an jedem Tatort ein Signum hinterließ. Ein Medaillon mit Gravur: eine Rose und ein Schwert, diegekreuzt übereinander lagen. Was immer das zu bedeuten hatte.
In gewisser Weise sympathisierte Tom Tanaka sogar mit dieser Bande. Sie kämpfte gegen Zustände, die man nur als ungerecht bezeichnen konnte. Besser gesagt: Sie zogen gegen Menschen zu Felde, die diese Zustände ausnutzten oder gar verschlimmerten. Doch die Methoden, mit denen die Rosenschwert-Mitglieder ihre Ziele durchsetzten, konnte Tanaka nicht gutheißen. Sie kümmerten sich nicht um Gesetze und griffen viel zu schnell zu den Waffen, wobei es immer wieder Verletzte gab, in seltenen Fällen sogar Tote. Interpol musste dem einen Riegel vorschieben. Ein global agierender, Selbstjustiz übender Verbrecherring konnte nicht geduldet werden.
Interpol hatte die Bande von Anfang an unterschätzt. Als vor einem Jahr die ersten Rosenschwert-Medaillons aufgetaucht waren, hatte
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