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Der zweite Gral

Der zweite Gral

Titel: Der zweite Gral Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Boris von Smercek
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Augen sehen konnte.
    »Fasil? Sind Sie hier?«, flüsterte Emmet. Niemand antwortete.
    Er tastete die Wand ab, fand schließlich den Lichtschalter, und noch bevor seine Augen sich an die Helligkeit gewöhnt hatten, schrak er zusammen: Der Esstisch lag auf der Seite, sämtliche Stühle waren umgekippt. Die wenigen Dekorationsgegenstände, die auf den Kommoden gestanden oder an den Wänden gehangen hatten, lagen im Zimmer verstreut. Die Küchennische zur Linken sah aus, als hätte dort eine Affenhorde herumgetobt – überall waren Bierflaschen und zerbrochenes Geschirr. Und inmitten des Chaos lag ein regungsloser Körper auf dem Boden. Fasil Mgali, mit einem Messer im Rücken. Emmet kniete sich neben ihn, doch als er ihm eine Hand an die Halsschlagader legte, wusste er, dass er nichts mehr für ihn tun konnte.
    Im Wohnzimmer lag eine zweite Leiche, ein junger Bursche, keine achtzehn Jahre alt. Ein großer roter Fleck bedeckte seine weiße Kutte. Seine erloschenen Augen starrten an die Decke.
    Auf den ersten Blick wirkte die Szene, als wären die beiden Männer in einen Streit geraten, bei dem sie sich gegenseitig umgebracht hatten. Doch das Bild wirkte irgendwie gestellt. Das Chaos war zu perfekt arrangiert, als dass es bei einem echten Kampf hätte entstehen können. Außerdem: Weshalb hätte der junge Kerl ausgerechnet mitten in der Nacht einen Streit mit Fasil Mgali vom Zaun brechen sollen? Das ergab keinen Sinn. Emmet war sicher, dass Mgali getötet worden war, weil er ihm geholfen hatte. Und der junge Bursche war entweder der Mörder, der bei Erledigung seines Auftrags selbst umgekommen war, oder – was Emmet für wahrscheinlicher hielt– ein allzu neugieriger Augenzeuge, den man zum Schweigen gebracht hatte.
    Emmet seufzte. Die Nacht hatte zu viele Opfer gefordert. Nelson Mgobogambele, Fasil Mgali, den jungen Mann im Wohnzimmer. Ob die Entführten aus Wad Hashabi noch lebten, wusste er nicht. Er konnte es nur hoffen.
    Emmet löschte das Licht und ging mit einer Taschenlampe, die auf der Kommode neben dem Eingang gestanden hatte, ins Badezimmer. Dort fand er seine Kleidung vor, wie er sie vor seinem Tauchgang zurückgelassen hatte. Er zog sich an und ging nach draußen. Das Morgenrot über dem Meer war intensiver geworden, doch Emmet hatte jetzt kein Auge für die Schönheit der Dämmerung. Gedankenverloren und betroffen ging er um das schlafende Dorf herum, zurück zu seinem Auto.
    Die Ereignisse der Nacht beschäftigten ihn während der ganzen Fahrt von Aqiq nach Port Sudan. Er fragte sich, was hinter all den Verbrechen steckte, hinter den Entführungen und Morden, doch er fand wieder einmal keine Antwort.
    Im Hotel übermannte ihn die Müdigkeit. Er ging in sein Zimmer, hängte das Bitte-nicht-stören-Schild vor die Tür und schlief beinahe augenblicklich auf seinem Bett ein. Als er erwachte, war es bereits kurz nach Mittag.
    Von der Lobby aus telefonierte Emmet nach Isfahan, aber statt Lara meldete sich nur die Bandansage. Emmet hinterließ die Nachricht, dass er mittlerweile sicher sei, die Spur gefunden zu haben, die zu Anthony Nangala führte. Zumindest zu seinen Kidnappern. Er sagte, dass er Port Sudan verlassen wolle, und bat Lara, sich mit ihm zu treffen. Am Flughafen von Jeddah. In Saudi-Arabien.

33.
    A ls Dr. Thomas Briggs Zimmer 32 betrat, saß Ex-Senator Wayne Bloomfield in einem Stuhl am Fenster und betrachtete die nächtlichen Sterne und den Vollmond.
    »Wundervoll, diese Aussicht, nicht wahr?«, fragte der Alte erstaunlich sanftmütig. Das Gespräch, das er und Briggs am Abend geführt hatten, schien die sentimentale Seite des sonst so übellaunigen Zynikers zum Vorschein zu bringen.
    »Es ist eine herrliche Nacht«, pflichtete Briggs ihm bei. Er ahnte, was in Bloomfield vorging. Welche Gedanken ihn bewegten, welche Sorgen ihn plagten. Obwohl es sonst nicht Briggs’ Art war, mit Patienten Vertraulichkeiten auszutauschen, ging er jetzt zu dem Greis ans Fenster und legte ihm beruhigend eine Hand auf die Schulter. »Ich weiß, dass Sie nicht mehr gerne fliegen, Senator, schon gar nicht über so weite Strecken, aber ich versichere Ihnen, dass es sich für Sie lohnen wird. Sie werden noch viele Nächte wie diese erleben, wenn Sie meinen Rat befolgen und sich von Doktor Goldmann behandeln lassen.«
    Bloomfield nickte, ohne den Blick vom Nachthimmel abzuwenden. »Ich vertraue Ihnen, Briggs«, murmelte er. »Ich vertraue Ihnen wirklich. Aber was Sie mir heute Abend erzählt haben, klingt beinahe zu

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