Der zweite Kuss des Judas.
wir Sie formal auf, uns bis spätestens morgen, 21. April, Ihren Abschlussbericht zu schicken.
Der Polizeipräsident von Montelusa (Liborio Bonafede)
Der Hauptmann und Kommandant der Kgl. Carabinieri (Arturo Carlo Bosisio)
KÖNIGLICHE PRAFEKTUR MONTELUSA
DER PRÄFEKT
An Monsignore Quirino Giacovazzo Königliches Lyceum und Gymnasium »Eschilo« Montelusa
Montelusa, den 19. April 1890
Hochwürden, ich muss Sie für einen Augenblick von Ihren bedeutenden humanistischen Studien abhalten und Sie zu einer Lappalie befragen, die während einer Tafelrunde von Freunden beim Gespräch über die fernen Schulzeiten aufgekommen ist. Der »Threnos« ist ein Klagegesang, dessen entsinne ich mich gut: Aber wurde er angestimmt, wenn jemand im Sterben lag oder wenn er schon richtig unter der Erde war? Für eine Klärung wäre ich Ihnen sehr verbunden. Ihr
Francesco Tirirò Präfekt von Montelusa
KÖNIGLICHES POLIZEIKOMMISSARIAT VIGÀTA
An den
Signor Questore Montelusa
An den
Capitano Comandante d er Kgl. Carabinieri Montelusa
Vigàta, den 21. April 1890
Tgb.-Nr. 226
Betreff: Abschlussbericht über den Fall des verschwundenen Patò
Dieser Abschlussbericht über den Fall von Filialdirektor Antonio Patò, der seit der öffentlichen Aufführung des Passionsspiels in Vigàta am 21. März des Jahres, in dem er den Judas spielte, verschwunden ist, ist zu Ihrer und unserer Konvenienz in Paragraphen eingeteilt.
§ 1) Der Filialdirektor Patò.
Antonio Patò wird am 16. Januar 1850 in Montelusa geboren. Er entstammt einer guten Familie (der Vater war ein angesehener Advokat) und schließt nach dem ordnungsgemäßen Besuch katholischer Schulen die Handelsschule mit Diplom ab.
Mit Unterstützung seines Onkels mütterlicherseits, des Grande Ufficiale und späteren Senators und Unterstaatssekretärs Artidoro Pecoraro, der einundfünfzig Prozent der Banca di Trinacria besitzt, wird er umgehend in dieser Bank eingestellt, und zwar in der Provinzialdirektion von Montelusa, wo er sich sogleich durch Korrektheit, Ehrlichkeit, Menschlichkeit im Umgang mit Kollegen und Kunden hervortut.
1884 wird er zum Direktor der Filiale in Vigàta bestellt. Im selben Jahre vermählt er sich mit Elisabetta Mangiafico, geboren in Sciacca, die aus einer reichen Familie stammt. Sie bekommen zwei Kinder.
Alle Personen, die wir über die Person des Filialdirektors befragten, äußerten nur deutliche und aufrichtige Worte des Lobes. Der Geschäftsmann Agatino Uccello, dem ein Darlehen verweigert wurde, erklärte, Patò habe dies so höflich und mit einer solchen Fülle an Begründungen getan, dass er am Ende selbst überzeugt war, dass ihm dieses Darlehen auf gar keinen Fall gewährt werden könne. Als praktizierender Katholik besuchte er jeden Sonntagmorgen die heilige Messe.
Ein gewissenhafter, sorgfältiger, gesetzter, akkurater Mann. Der Amtsdiener der Filiale, Signor Arturo Catalano, sagte, auf Patòs Schreibtisch müssten die Stifte jeden Morgen exakt nach Größe angeordnet sein, angefangen bei dem am wenigsten gespitzten und damit längsten Stift, der links neben dem Tintenfass zu liegen habe, das immer bis zu einer gewissen Höhe gefüllt sein müsse, daneben die mit dem dafür vorgesehenen Putztüchlein gut gesäuberte Feder. Ebenso das Fläschchen mit dem gelochten Metallverschluss für den Löschsand.
Er ist mit einem erstaunlichen Gedächtnis begabt: Niemals vergisst er einen Geburtstag oder ein Jubiläum der wichtigsten Kunden.
Niemals wurden ihm seitens der Kunden Vorhaltungen wegen irgendeines Fehlers der von ihm geleiteten Filiale gemacht.
In Vigàta verkehrt er mit drei oder vier Freunden, die sämtlich von untadeligem und ruhigem Lebenswandel sind. Selten verbringt er zusammen mit seiner Frau einen Abend bei diesen Freunden. Ganz gewiss häufiger finden gegenseitige Besuche am Sonntagnachmittag statt. Auf Anfrage des für die Rolle des Jesus vorgesehenen Volksschullehrers Erasmo Giuffrida stimmt er 1886 zu, fortan als Judas im Passionsspiel mitzuwirken. Er willigt ein, ohne sich lange bitten zu lassen, studiert die Rolle unermüdlich und findet gleich beim ersten Auftritt großen Anklang bei den Zuschauern. Patò spielt die Rolle weiterhin mit jener Gewissenhaftigkeit, die er all seinem Tun angedeihen lässt, und erreicht einen hohen Grad an Wahrhaftigkeit. Wir weisen darauf hin, dass er trotz der Rolle, die er gern spielte, in Vigàta niemals, auch nicht im Scherz,
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