Der zweite Kuss des Judas.
beleidigend oder verächtlich mit dem Beinamen »Judas« bedacht wurde. Zwar wurde er während der Aufführung von den Leuten nach Kräften beschimpft, doch behandelten sie ihn respektvoll wie immer, wenn der Filialdirektor sein Kostüm wieder abgelegt hatte.
Unseres Wissens ist er nur ein einziges Mal fehlgegangen, und zwar gegenüber Gerlando Ciaramiddaro.
Wie aus dem Verhörprotokoll (siehe Anlage 1 des Berichts Tgb.-Nr. 215 vom 27. März d.J.) hervorgeht, zählt Ciaramiddaro dem Direktor der Filiale, deren Kunde er schon lange ist, persönlich ein Darlehen von Lit. 280 zurück. Dies findet am 18. März statt. Buchhalter Tortorici, der Hauptkassierer, bestätigt die erfolgte Rückzahlung. Dennoch erhält Ciaramiddaro am Morgen des 19. März einen Brief ohne Briefkopf, aber von Patò unterschrieben, in dem er zur Rückzahlung des Darlehens aufgefordert und für den folgenden Morgen, also den 20. März, ins Bureau einbestellt wird. Ciaramiddaro ist überzeugt, dass es sich um ein Versehen handelt, und geht hin. Doch Patò beschuldigt ihn, einen anonymen Drohbrief verfasst zu haben, den er ihm auch vorlegt. Ciaramiddaro leugnet, und es kommt zu Handgreiflichkeiten. Zum Commissario, der dazwischengetreten ist, sagt Patò, Anlass des Streites sei die nicht erfolgte Rückzahlung des Darlehens, den anonymen Brief erwähnt er mit keinem Wort.
Dieser Brief wird uns von Generalinspekteur Cannarella übergeben (siehe Bericht Tgb.-Nr. 321 vom 27. März d.J.), denn er hat ihn auf Patòs Schreibtisch, wo er offen dalag, gefunden.
Antonio Patò hat Ciaramiddaro also nicht aus Versehen ins Bureau bestellt, sondern eindeutig willentlich, denn er wollte ihm ins Auge blicken, um seine Reaktion zu beobachten, wenn er ihm die Urheberschaft des anonymen Briefes vorhielt.
Die Gründe, weshalb Ciaramiddaro nicht darauf reagierte, dass Patò dem Commissario gegenüber den anonymen Brief nicht erwähnte, wurden von ihm im Verlauf des Verhörs erklärt.
Doch man kann schwerlich verstehen, warum Patò den Brief verschwiegen hat und ihn dann offen auf dem Schreibtisch liegen ließ.
§ 2) Beweggründe für das Verschwinden.
Der Gedanke von Signora Elisabetta Mangiafico, der Ehefrau von Patò, und ihrem Bruder, Hauptmann Arnoldo Mangiafico, dass der Filialdirektor verschwunden sei, weil er sich beim Sturz durch die Bodenluke arg den Kopf angeschlagen und daher das Gedächtnis verloren habe, ist, wie im Folgenden dargelegt, nicht haltbar. Weder der obere Teil der Treppe in Gestalt einer gepolsterten Plattform, die sich exakt unter der Luke befindet, noch die Pfosten, die die Bühne stützen, noch der Boden in der Unterbühne weisen Blutflecken auf.
Doch darauf kann man Folgendes entgegnen: Es ist nicht unbedingt gesagt, dass der Kopf bei dem Aufschlag blutet.
Einverstanden, aber unbestreitbar bleibt Folgendes: Dann wäre nämlich Patò im Zustand der Verwirrung unter der Unterbühne hervorgekommen und in den zum Umkleiden bestimmten Raum zurückgegangen, hätte das Judaskostüm abgelegt und in den Jutesack gesteckt und seine eigenen Kleider angezogen und wäre mit dem Sack wieder hinausgegangen. Das beweist Folgendes:
Patò hat nicht das Gedächtnis verloren (dann hätte er auch vergessen müssen, wo er seine Zivilkleidung aufbewahrte), sondern war klar im Kopf und bei Bewusstsein.
Außerdem wäre Patò, tot oder lebendig, sicherlich gefunden worden: Signora Patò hatte in einem öffentlichen Anschlag demjenigen eine hohe Belohnung versprochen, der ihr ihren Mann wiederbrächte, und jeder in Vigàta und Umgebung weiß über die blühenden Finanzen von Signora Patò Bescheid.
Die andere Mutmaßung kann folgendermaßen zusammengefasst werden:
Antonio Patò ist das Opfer einer erpresserischen Entführung durch eine oder mehrere Personen (siehe Bericht Tgb.-Nr. 219 vom 2. April d.J.).
Doch dieser Mutmaßung steht Folgendes entgegen: Weder bei Signora Patò noch bei ihrem Bruder, noch bei Freunden oder Verwandten ist irgendeine Geldforderung im Tausch gegen den Entführten eingegangen. Zuviel Zeit ist verstrichen, seit er verschwunden ist! Davon ausgehend, könnte man Folgendes vermuten: Es handelt sich nicht um erpresserischen Menschenraub, sondern um eine Entführung aus Rache von Seiten eines gefährlichen unzufriedenen Kunden oder von Mafiosi, mit denen Patò in Bankangelegenheiten zu tun haben musste. Doch dem widerspricht in gewissem Sinne Folgendes: Eine verstümmelte Leiche,
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