Der Zweite Messias
worden war oder wegen der Schönheit der Kunstwerke Michelangelos, sondern wegen all der Papstwahlen, die dort stattgefunden hatten. Die Sixtinische Kapelle war mit der Vergangenheit der Kirche untrennbar verknüpft.
Und es gab keinen passenderen Ort, um einen Schlussstrich unter diese Vergangenheit zu ziehen.
An diesem Morgen blinzelte die Sonne durch die bunten Fenster der zahllosen Kirchen Roms. In der Sixtinischen Kapelle herrschte eine angespannte und erwartungsvolle Atmosphäre.
John Becket hatte beschlossen, nicht auf seinem prächtigen Thron zu sitzen, sondern auf einem schlichen Holzstuhl in der Mitte der Kapelle. Er trug eine einfache weiße Soutane, und um seinen Hals hing ein schmuckloses Holzkreuz. Anders als in der Nacht seiner Wahl stockte seine Stimme diesmal nicht, als er sich erhob und seine Rede begann.
»Liebe Brüder in Christi, ich freue mich und danke euch, dass ihr alle meinem Ruf gefolgt sein. Meine Absicht, unsere Archive zu öffnen, kennt ihr bereits. Doch es gibt noch etwas, was ich euch mitteilen möchte.«
In der Kapelle breitete sich Stille aus. Die Kardinäle blickten den Papst erwartungsvoll an.
»Aber zuerst möchte ich über die Schriftrolle sprechen. Der historische Beweis eines zweiten Messias, den sie enthält, entspricht der Wahrheit. Viele andere ähnliche Geheimnisse wurden den Meisten von euch in der Vergangenheit vorenthalten. Diese Geheimnisse werden der Kirche großen Schaden zufügen, sobald sie an die Öffentlichkeit dringen. Sie werden Priester und Laien in Skeptiker verwandeln und uns alle auf eine harte Probe stellen. Der Glaube vieler Menschen wird erschüttert oder sogar zerstört werden.
Wie wollen wir auf unsere Kritiker reagieren? Wie wollen wir die Lügen widerlegen, die verbreitet wurden? Die Zweifel ausräumen, die gesät werden? Das Unrecht wiedergutmachen, das geschehen ist? Wir, die wir Gott folgen, wissen, dass dieseSchriftrolle auch die Existenz des wahren Jesus bestätigt, indem sie die Existenz des falschen Messias enthüllt. Wir, die wir in seinen Fußstapfen wandeln, brauchen diesen Beweis nicht. Wir haben bereitwillig unser Leben der Aufgabe gewidmet, Gottes Botschaft zu verbreiten.
Diese Botschaft aber wurde verfälscht. Die Kirche wurde in Skandale verwickelt. Zu oft ist es ihr nicht gelungen, das zu tun, was sie predigt. Sie hat Gottes Wort verkündet, aber nicht danach gelebt.«
Becket verstummte und ließ den Blick über die Versammlung schweifen; dann fuhr er fort: »Das wissen wir alle – so wie wir alle wissen, dass wir Jesu Vermächtnis nicht ignorieren dürfen. Wir müssen seine Lehren und sein Handeln verkünden und in die Herzen aller Menschen pflanzen, sodass sie auf Erden eine Ordnung schaffen, die auf Liebe und Wahrheit, Mitgefühl und Gerechtigkeit beruht.
Kürzlich habe ich eine Frau kennen gelernt, eine Prostituierte namens Maria Magdalena. Als ich sie fragte, was sie von den Menschen im Vatikan hält, antwortete sie: ›Die halbe Welt hungert, doch Sie und Ihresgleichen leben wie die Fürsten.‹
Liebe Brüder, diese Frau hat die Wahrheit gesagt. Ich weiß, dass viele genauso denken. Und ich weiß auch, dass es viele von euch schockieren wird, was ich gleich sagen werde. Doch ich glaube, Gott hat mich hierher gesandt, damit ich einem höheren Ziel diene und die Welt auf die Wiederkunft Christi vorbereite.«
Ein Raunen ging durch die Sixtinische Kapelle. Die Kardinäle wechselten verwirrte und fragende Blicke.
Becket fuhr fort: »Beim Letzten Abendmahl, als Jesus das Brot mit seinen Jüngern brach, hinterließ er uns ein feierliches Vermächtnis. Ich frage mich oft: Haben wir dieses Vermächtnisjemals richtig verstanden? Sind wir den Worten Jesu treu geblieben?
Ich glaube, wir haben es nicht getan. Die Welt leidet und hungert, und wir sitzen hier in unserem goldenen Gefängnis und beten. Unsere Wissenschaftler haben den Mond erobert, aber das Unrecht, das die Seelen der Menschen zerstört, können wir nicht bezwingen.
Wir haben in zweitausend Jahren viel erreicht. Aber ist es Gottes Wille, dass der symbolische Höhepunkt unserer Leistungen eine Stadt voller wunderschöner Kirchen und unschätzbarer Kunstwerke ist? Eine Stadt, von Mauern umschlossen? Wahrheit und Liebe brauchen keine Mauern. Jesus hat keine Mauern errichtet, er hat sie eingerissen. Und er hat nicht in prachtvollen Kirchen, sondern bei den Menschen selbst gebetet, auf dem Land, auf den Straßen, in den Häusern. Er ging mit gutem Beispiel voran, und
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