Der zweite Mord
unglaublich klapprig. Einer der größeren aus der Gruppe, den Irene für einen jungen Mann hielt, öffnete den Kofferraum. Nach einigem Suchen fand er das Gewünschte und reichte es Jenny. In der Kälte zog sie sich ihre Jacke aus und das Kleidungsstück, das er ihr gegeben hatte, über den Kopf. Irene wurde es mulmig, als sie sah, dass es sich dabei um eine Kapuzenjacke handelte. Rasch setzte Jenny die Kapuze auf und zog sie um das Gesicht zusammen. Jetzt sah sie aus wie die anderen.
Alle sprangen in den Wagen. Stotternd und in eine schwarze Wolke Auspuffgase gehüllt fuhr die Rostlaube zum Schluss an. Irene folgte ihnen langsam.
Der Wagen bog in den Radiovägen ein und fuhr Richtung Mölndal. Irene hatte keine Probleme dranzubleiben, da der Volvo auch unter größten Mühen das Tachometer nicht über siebzig pressen konnte. Bei dieser Schwindel erregenden Geschwindigkeit klang der Motor wie eine alte Nähmaschine, die auf einen hackenden Zickzackstich eingestellt ist.
Sie kamen am Radiosender vorbei und fuhren noch ein Stück weiter, ehe Irene erstaunt bemerkte, dass sie links abbiegen wollten. Sie fuhren die Viktor Hasselblads Gata hinauf. Irene vergrößerte ihren Abstand, da um diese Zeit in dem Industriegebiet kaum noch Verkehr war. Die Klapperkiste vor ihr wurde noch langsamer und kroch schließlich im Schneckentempo die Straße entlang. Was hatten sie nur vor? Irenes schlimmste Ahnungen bewahrheiteten sich, als der Volvo mit einigen Fehlzündungen in eine Querstraße einbog. Irene gab Gas und fuhr vorbei. Aus den Augenwinkeln sah sie eine Neonreklame mit dem Text: »Nisses Fleischwaren und Delikatessen.«
Irene schaltete die Scheinwerfer aus und bog dann ebenfalls in eine Querstraße ein. Lautlos stieg sie aus und schloss äußerst vorsichtig die Tür. Sie wollte versuchen, über die Seitenstraßen auf die Rückseite der Betriebe an der Viktor Hasselblads Gata zu kommen. Es wäre viel leichter gewesen, zurück auf die große Straße zu marschieren, aber dort hatte die Gang sicher eine Wache platziert.
Es war nicht leicht, sich in den vielen Seitenstraßen zurechtzufinden. Nach einer Weile entdeckte sie die Rückseite der Neonreklame. Sie kam zu einem hohen Zaun, der einen großen Parkplatz hinter dem Gebäude umgab. In der Ecke des Zauns standen ein paar dichte Büsche, die einen guten Sichtschutz boten.
Irene spähte durch die Zweige. Sie sah nur drei Kühllaster, die rückwärts an der Laderampe des Gebäudes geparkt waren. Sie wurden von Wandlampen in grelles Licht getaucht. Ihren eigenen Abstand zu den Lastwagen schätzte Irene auf zwanzig Meter ein. Alles war still bis auf ein schnappendes, metallisches Geräusch, das in regelmäßigen Abständen wiederkehrte. Irene identifizierte es als Geräusch eines Seitenschneiders, der Maschendraht durchtrennt. Plötzlich sah sie wie sich dunkle Silhouetten auf die Lastwagen zubewegten. Sie zählte fünf. Sie hatte Recht gehabt: Einer schob auf der Straße Wache.
Lautlos ging sie am Maschendrahtzaun entlang. Sie hatte eine ungefähre Vorstellung davon, wo das Loch sein musste. Vorsichtig fuhr sie mit den Fingern am Draht entlang und fand die Stelle. Langsam trat sie ein paar Schritte zurück, um im Dunkeln der Hauswand hinter sich Schutz zu suchen.
Die Gruppe der Schattengestalten hatte sich am Rand des Lichtscheins versammelt. Sie waren hinter der Frontpartie des Lastwagens verborgen, der ihr am nächsten stand. Der größte von ihnen hob seinen Arm über den Kopf und teilte mit dem kräftigen Seitenschneider einen Schlag aus. Vor Irenes innerem Auge tauchte blitzartig das Bild eines anderen zum Schlag erhobenen Seitenschneiders auf.
Irene fischte ihr Handy aus der Tasche und wählte in dem Augenblick, in dem sie das splitternde Glas hörte, bereits 112. In der Zeit, bis der Molotowcocktail Feuer gefangen hatte, hatte ihr die Notrufzentrale bereits geantwortet, und sie zischte ins Telefon:
»Molotowcocktail auf Kühllaster. Militante Veganer. Högsbo Industriegebiet. Viktor Hasselblads Gata. Nisses Fleischwaren und Delikatessen. Die Täter fahren einen schrottreifen Volvo 240. Rostfarben. Kennzeichen N …«
Sie hörte nicht, dass jemand hinter ihrem Rücken angeschlichen kam, da sie sich vollkommen auf das um sich greifende Feuer und das Telefongespräch konzentrierte. Plötzlich wurde es um sie herum dunkel. Ehe sie in dem schwarzen Strudel verschwand, meinte sie noch, Jennys verzweifelten Schrei zu hören.
»Mama!«
Nach wenigen Minuten kam
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