Der zweite Mord
Irene wieder zu sich. Schnelle Schritte waren auf dem Asphalt zu hören. Autotüren wurden zugeschlagen. Obwohl Irene benommen darum betete, das Gegenteil möge geschehen, sprang der Volvo nach einer Weile an. In ihrem Kopf klopfte es gewaltig, und ihr war fürchterlich übel. Mit Mühe versuchte sie das Kinn zu heben und sich umzusehen. Alle Feuer der Hölle tanzten vor ihren Augen einen rasenden Flamenco, und die Hitze wärmte ihr Gesicht. Als sich endlich nicht mehr alles drehte, begriff sie, dass vor ihr der Kühllaster brannte. Irene ertappte sich dabei, wie sie wie hypnotisiert in die Flammen starrte. Deshalb dauerte es eine Weile, bis sie das Schluchzen hörte. Langsam wandte sie den Kopf zur Seite. Sie musste sich fast ganz umdrehen, bis sie die zusammengesunkene Gestalt sah.
Instinktiv wusste sie, dass es Jenny war, und begann auf ihre Tochter zuzukriechen. Sie wagte nicht, aufzustehen, das Risiko einer Ohnmacht war zu groß.
Jenny lag auf dem Bauch, schien aber nicht verletzt zu sein. Schluchzer schüttelten sie. Vielleicht war es aber auch die Kälte. Zu ihrem Erstaunen bemerkte Irene, dass ihre Tochter keine Jacke trug. Auch keine Kapuzenjacke, stellte sie erleichtert fest. Die wäre jetzt vermutlich ganz brauchbar gewesen. Doch Jenny hatte nur noch ein T-Shirt an. Mit zitternder Hand strich ihr Irene zärtlich über den eiskalten Arm und sagte:
»So, so, Liebes. Jetzt verschwinden wir hier aber so schnell wie möglich, ehe meine Kollegen kommen.«
Jenny schniefte und nickte. Zitternd stand sie auf und versuchte ihre Mutter auf die Beine zu ziehen. Vergeblich.
»Ich krieche«, entschied Irene.
So schnell sie konnte, kroch sie auf den Maschendrahtzaun zu. Im starken Licht des Feuers konnte sie sich leicht orientieren. Irene stützte sich am Zaun ab und stand auf. Unendlich langsam bewegte sie sich auf das dichte Gebüsch an der Ecke zu. Die Sirenen der Polizeiwagen kamen näher. In dem Augenblick, in dem das erste Blaulicht neben der Einfahrt auftauchte, ließ sich Irene hinter den Büschen fallen und zog Jenny mit sich. Sie legte ihre Arme um ihre Tochter, um sie zu wärmen und zu beruhigen. Vollkommen reglos saßen sie da.
Eine Autotür wurde zugeschlagen, und sie hörten Schritte auf dem Asphalt.
»Verdammt! Abgeschlossen. Wir müssen … Ist das Auto da hinten von der Wachgesellschaft? Hallo, Kameraden! Gut, dass ihr da seid. Die Feuerwehr kommt jede Minute. Da hinten sind sie. Macht schon das Tor auf!«
Jetzt oder nie. Der Tumult am Tor lenkte die Polizisten und die Feuerwehrleute genügend ab, damit sie sich davonschleichen konnten. Irene legte Jenny nachdrücklich einen Arm um die Schultern. Zusammen standen sie auf und stahlen sich auf die schmale Nebenstraße.
Schritt um Schritt näherten sie sich schwankend dem Auto. Irene hatte das Gefühl, mehrere Kilometer weit gegangen zu sein, obwohl es sich in Wirklichkeit nur um knapp hundert Meter handelte.
Der Schwindel war vorüber, aber Irene fühlte sich matt und zittrig. Die Kleider klebten ihr schweißnass auf der Haut.
Ehe sie die Autotür öffnete, zog sie ihr Handy aus der Tasche und wischte es an ihrem Pullover ab. Mit all der Kraft, über die sie noch verfügte, schleuderte sie es in ein paar dichte Rhododendronbüsche vor einer Hauswand. Dort würde man es, hatte sie Glück, bis zum Sommer nicht finden.
Mit Mühe gelang es ihr, die Autotür zu öffnen. Sie ließ sich auf den Fahrersitz sinken. Dann öffnete sie Jenny, der die Zähne vor Kälte klapperten, die Beifahrertür. Irene zog ihre Lederjacke aus und gab sie ihrer Tochter. Diese begann wieder zu schniefen, riss sich aber zusammen. Mit zitternder Stimme sagte sie:
»Mama … ich habe geglaubt … dass wir … Plakate … ankleben würden. Nicht … dass wir Laster anzünden. Und er … er hat dir mit einem dicken Stock auf den Kopf geschlagen! Ich habe das gesehen und … geschrien …«
Jetzt konnte sie ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, sondern begann laut zu heulen. Irene ließ den Motor an und fuhr vorsichtig rückwärts aus der Parklücke. Viel langsamer als die erlaubte Höchstgeschwindigkeit fuhr sie davon und weg von dem Lastwagenbrand.
Jenny zog die Nase hoch und trocknete sich mit dem Lappen aus dem Handschuhfach, mit dem Irene immer die beschlagenen Scheiben abwischte, das Gesicht. Der Lappen war so schmutzig, dass sie anschließend aussah, als hätte sie Tarnschminke aufgelegt. Irene kommentierte das nicht weiter, sondern fragte nur:
»Was ist
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