Der zweite Mord
nicht mal der Tierschutz gelten oder was? Dann wären wir nicht mal so viel wert wie ein Hamster!«
Katarinas Stimme klang wütend und sarkastisch.
»Verdammt, was bist du mies! Das ist doch gut, dass die auf unserer Seite sind!«
»Auf unserer Seite! Das sind die doch nur so lange, wie wir uns nach ihnen richten! Versuch mal, eine eigene Meinung zu haben, dann wirst du schon sehen! Dann lassen die dich nicht mehr mitspielen!«
»Darf ich aber doch! Wir sind noch mehr Mädchen in der Gruppe, und wir dürfen sagen und denken, was wir wollen! Außerdem ist das kein Problem. Meist sind wir einer Meinung.«
Wütende Schritte auf der Treppe verkündeten, dass Jenny auf dem Weg in ihr Zimmer war. Irene hörte, wie sie eine Weile nach etwas suchte und dann mit lauten Schritten wieder nach unten ging. Ein wohl bekanntes Quietschen verriet ihr, dass Jenny gerade die Kühlschranktür öffnete.
»Du hast den ganzen Apfelsaft getrunken!«, kreischte sie.
»Es war nur noch ein winziger Schluck übrig.«
»Verdammt nett von dir! Du weißt doch, dass ich keine Milch trinke, du Arsch!«
»Verzeih, Gnädigste!«
Der Ton ihrer Töchter ließ wirklich zu wünschen übrig. Irene überlegte sich schon, ob sie eingreifen sollte. Da hörte sie, wie Jenny sagte:
»Du bist doch nur sauer, dass ich endlich was Vernünftiges mache! Heute Abend wollen wir …«
Da brach ihre Tochter mitten im Satz ab. Jeder Gedanke daran, sich zu erkennen zu geben, war bei Irene wie weggeblasen.
»Was wollt ihr?«, fragte Katarina höhnisch.
»Aktion direkt!«
Eine Weile lang herrschte im Erdgeschoss eisiges Schweigen. Schließlich wurde es von Katarina gebrochen:
»Was hast du in der Rolle?«
»Geht dich nichts an!«
»Blöde Kuh!«
Irene sah vorsichtig aus dem Obergeschoss nach unten und beobachtete, wie Katarina wütend auf die Toilettentür zu marschierte. Sie knallte sie mit Nachdruck zu und schloss ab. Jenny stand noch in ihrer Winterjacke vor der Spüle und trank ein Glas Wasser. Sie hatte die Papprolle unter den linken Arm geklemmt und hielt in der rechten Hand ein Tomatenbrot. Dann ging sie eiligen Schrittes auf die Haustür zu, öffnete sie und trat ins Freie.
Als die Haustür hinter Jenny zufiel, war Irene bereits im Erdgeschoss. Lautlos ging sie hinter ihrer Tochter her.
Draußen war es dunkel und einige Grade unter null. Irene sah Jenny im Schein einer Straßenlaterne und vermutete, dass sie auf dem Weg zur Bushaltestelle war. Hastig machte sie kehrt. Sie lief zur Garage, fuhr ihren Wagen ins Freie und dann im Schritttempo Richtung Bushaltestelle. Im Halbdunkel zwischen zwei Straßenlaternen und in gehörigem Abstand blieb sie stehen. Als sie den Motor abstellte, tauchte Jenny neben dem Wartehäuschen auf. Einige Minuten später kam der Bus und Jenny stieg ein. Irene fuhr in gebührendem Abstand hinterher.
Jenny fuhr zum Frölunda Torg. Dort stieg sie aus und ging auf eines der Hochhäuser zu. Irene musste ihren Wagen abstellen und einen Parkschein lösen. Dabei verlor sie Jenny aus den Augen. Sie wusste, in welches Haus ihre Tochter gegangen war, aber nicht in welchen Treppenaufgang.
Irene verfluchte ihre eigene Dummheit. Was hätte das schon für eine Rolle gespielt, wenn sie einen Strafzettel wegen Falschparkens bekommen hätte? Jetzt war es jedoch zu spät. Jetzt konnte sie sich nur noch in ihr Auto setzen und auf Jenny warten. Beim Warten zog sie ihr Handy aus der Tasche und rief zu Hause bei Katarina an.
»Hallo, Liebes. Ich komme heute später. Im Kühlschrank steht Huhn. Du brauchst nur noch Reis und Salat zu machen … schon ein Brot gegessen. Ach so. Aber vielleicht willst du noch was essen, wenn ich nachher nach Hause komme … Okay. Ich verstehe. Aber du kannst wenigstens Sammie sein Fressen geben und mit ihm draußen eine Runde drehen, ehe du zu Anna gehst. Gut. Danke. Sei um zehn zu Hause. Morgen ist Schule. Tschüss.«
Irene unterbrach die Verbindung und richtete sich darauf ein, zu warten, bis Jenny kommen würde. Sie musste lange warten.
Im Wagen war es eiskalt, und es war fast neun Uhr, als sie wieder einen Blick auf ihre Tochter erhaschte. Jenny war nicht allein. Sie ging inmitten einer Gruppe von sechs Personen. Es war unmöglich zu erkennen, ob es sich um Mädchen oder Jungen handelte. Alle außer Jenny trugen dunkle Kapuzenjacken und die Kapuzen über die Köpfe gezogen. Die Jugendlichen gingen auf einen alten Volvo 240 undefinierbarer Farbe zu. Unterschiedliche Rosttöne überwogen. Der Wagen war
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