Der zweite Tod
Mensch vorbei. Als er näher herantrat, entdeckte er den eingesackten Streifen in der Schneedecke. Darunter musste ein Weg liegen. Sie stapften hundert Meter durch den knietiefen Schnee bis zum Haus. Der Meereswind hatte ihn so verweht, dass man nicht vorhersehen konnte, wie tief man beim nächsten Schritt einsank. Das Haus wurde beim Hinlaufen kaum größer. Als sie davor standen, wirkte es noch winziger als von der Straße aus. Es war verlassen und winterfest verbarrikadiert. Die Außenfarbe war zu Kjells Erstaunen nicht im Baumarkt gekauft, sondern noch hausgemachtes Falurot aus Mehl, Kupferpigment und reichlich Schweineblut. Wer war heute noch so wahnsinnig? Södersvik lag in der Luftlinie nur wenige Kilometer südlich. Nur vereinzelt wuchsen Fichten und Sträucher, denn die Häuser standen auf einer Felsplatte, die hundert Meter weiter ins Meer abfiel.
An dem Haus selbst gab es keinen Hinweis darauf, wem es gehörte. Die Fenster waren von innen mit Kartons abgedichtet.
»Bist du sicher, dass es dieses Haus ist?«
Sie nickte und deutete auf die Fahnenstange, die nur das Nachbarhaus besaß. Kjell pochte gegen die Tür und die beiden Fenster, doch es rührte sich nichts.
Zurück am Auto stellte Kjell mit Hilfe des Navigationssystems die geographischen Koordinaten fest, ging noch einmal zurück und machte einige Fotos vom Haus und der Umgebung. Mari wartete im Wagen, während er im Laufschritt die anderen Häuser ablief, um zu prüfen, ob sich dort jemand aufhielt. Obwohl es wieder dunkel wurde, leuchtete bei keinem der anderen Häuser Licht. Der Wind trieb ihm unablässig Schneekristalle ins Gesicht, in die Nasenlöcher und in jede Ritze seiner Kleidung. Alle Häuser waren ähnlich verrammelt. Das war kein Wunder, so wie man hier dem Meereswind ausgeliefert war. Dies war kein Ort für den Winter.
Sie machten sich auf den Rückweg. In Norrtälje hielt er vor einem Dorfcafé. Dort tranken sie Kaffee und aßen Zimtschnecken. Er hatte mit ihr sprechen, in einer neutralen Umgebung ein väterliches Wort an sie richten wollen, aber jetzt waren sie beide noch viel zu durchgefroren dazu. Mari hatte der Aufenthalt an der frischen Luft gut getan. Er rief im Präsidium an und sprach mit Barbro. Vor Montag würden sie den Besitzer des Hauses nicht ermitteln können. Solche Erkundigungen übertrug man am besten Henning. Wenn Hammarby IF heute gewann, würde er dafür nur fünf Minuten brauchen. Barbro wollte ihm einen Zettel auf den Schreibtisch legen. Kjell entschied sich doch um und bat Barbro, ihm die genaue Adresse von Kajsa Björklund zu geben.
Er ließ Mari im Wagen und prophezeite ihr, dass sie es diesmal nicht bis Andalusien schaffen würde. Ein etwa gleichaltriger Mann in einem grauen Isländerpulli öffnete die Tür. Kjell nahm sich vor, die Schneefräse zu fragen, wie man Isländerpullis auf Island nannte. Er stellte sich vor und entschuldigte sich für die Störung. Er hieß Lasse Björklund und war Kajsas Mann.
»Kajsa ist gar nicht da.« Er machte keine Anstalten, Kjell hereinzubitten.
Kjell wollte es kurz machen. »Habt ihr ein Sommerhaus?«
»Ein Sommerhaus?«
»Sommerhaus, ja.«
Lasse schüttelte verwundert den Kopf und deutete mit dem Daumen über seine Schulter auf sein Holzhaus. »Wozu brauchen wir denn ein Sommerhaus? Hast du etwa eine Ferienwohnung in Stockholm?«
Sie brauchten eine Stunde zurück in die Stadt. Unterwegs ließ er sich von Mari noch einmal den Verlauf des Abends erzählen, aber das führte zu keinen neuen Eingebungen.
Barbro hatte eine Firma entdeckt, die den Namen SHF trug, den »Schwedischen Handelsverbund«. Interessant daran war, dass die Firma internationale Geschäfte im Auftrag des Außenhandelsministeriums tätigte. Die SHF war zwar in Privatbesitz, jedoch ein reines Durchführungsunternehmen für den schwedischen Staat. Barbro war so raffiniert gewesen, von der Internetseite des Ministeriums aus nach der Firma zu suchen, und bald fündig geworden.
Und es gab noch eine zweite Überraschung. Sofi und Linda waren um drei Uhr am Flughafen in Arlanda angekommen. Sie hatten niemandem Bescheid gesagt und auf eigene Faust den Zug in die Stadt genommen.
»Was hat Sofi denn gesagt?«, wollte Kjell wissen.
»Nichts«, antwortete Barbro. »Linda hat angerufen. Sie sind beide zu Hause. Du solltest besser vorbeifahren. Linda klang niedergeschlagen. Irgendwas stimmt mit Sofi nicht.«
Kjell nahm den Dienstvolvo. Erst auf der Fahrt fiel ihm ein, dass Linda vielleicht erstaunt
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