Der Zwerg reinigt den Kittel
Rutschsichere Bodenfliesen, Haltegriffe.
Suzanna schläft.
Der Fernsehraum: GroÃbildschirm, Kabelanschluss. Ideal für geselliges Beisammensein. Der Garten: Anti-Osteoporose-Parcours, planierte Fläche für Rollstuhlgymnastik, Mensch-Tier-Begegnungspavillon.
»Mensch-Tier-Was?«, sagt Marlen.
Sie hat aufgehört, Fäden aus ihrem Blazer zu ziehen, und kratzt jetzt mit einem knallroten Kunstfingernagel am Lack der Fahrertür herum.
»Siehe Seite dreiundzwanzig, Kapitel Psychomotorische Gruppentherapie, Punkt vier.« Karlotta blättert ein paar Seiten zurück. »Ah ja, da ist es. Ich zitiere:
Zweimal im Monat bekommen unsere Bewohner Besuch von Polli und Hassan. Die französische Bulldogge und der eurasische Husky sind schon seit Jahren Teil unserer Heimfamilie. Im Mensch-Tier-Begegnungspavillon wird fröhlich gespielt, gestreichelt, gebürstet und gefüttert. Vor allem für unsere multimorbiden Bewohner ist die Begegnung mit den Therapiehunden jedes Mal ein Höhepunkt. Polli und Hassan lassen sich von Krankheiten und Behinderungen nicht stören, sie sind offen für jeden Menschen und nehmen jeden so, wie er ist.«
»Verstehe«, sagt Marlen. Sie wirft Karlotta einen Blick zu, bei dem Hassan winselnd den Schwanz einziehen und davonschleichen würde. So wie ich Polli einschätze, fällt sie einfach tot um. Karlotta merkt nichts. Sie blättert ein paar Seiten vor und sucht nach der Stelle, an der sie zuletzt war. Marlen schnaubt, der flüchtende Hassan wird von einem Windstoà erfasst und gegen einen Pfosten des Mensch-Tier-Begegnungspavillons geschleudert. Kein Grund zur Besorgnis, ein eurasischer Husky hält sowas aus. Unglücklicherweise ist der Pfosten mit künstlichen Weinranken verziert, die ein talentierter Kunstschmied frei nach der Natur gestaltet hat. Die grobzackigen Blätter sind aus Metall und deutlich gröÃer, als es die Natur erlaubt. Den Rest können Sie sich ja selbst vorstellen.
»Deine Gewaltphantasien sind auch nicht mehr das, was sie einmal waren«, sagt Marlen. Ihr erstaunlich stabiler Kunstfingernagel steckt im Schloss der Fahrertür und bewegt sich suchend hin und her. Irgendwo in einem der Bürobauten links oder rechts vom Einkaufszentrum atmet ein juveniler Mann in Anzug und Krawatte plötzlich schwerer als sonst.
Es ist unmöglich, ein Autoschloss mit einem Fingernagel zu knacken.
Es ist unmöglich, die Gedanken eines anderen zu lesen. Seine Phantasien. Das können nur Dämonen.
Gespenster des Gewissens.
Mir ist kalt.
Fünfundzwanzig Grad Celsius, ein lauer sommerlicher Nieselregen, und mir ist kalt. Ganz plötzlich.
Die Legende sagt, dass Hexen nicht essen müssen, weil sie sich von den Dämonen ernähren, die in ihren Mägen wohnen. AuÃerdem sagt die Legende, dass in Gegenwart von Hexen oder Dämonen die Körpertemperatur eines sensiblen Menschen schlagartig um drei bis vier Grad fallen kann. Wie es aussieht, bin ich ziemlich sensibel. Manchmal musst du sehr alt werden und in sehr seltsame Situationen kommen, um so etwas zu bemerken.
»Wenn da nicht bald jemand kommt und uns abholt«, sagt Marlen, »nehmen wir einfach den Mercedes und fahren ins Grüne, okay?«
Okay, sagt Karlotta frustriert.
Okay, sage ich fröstelnd.
Suzanna schläft tief. Ihr Kopf ist auf die Brust gesunken, vielleicht ist es auch schon das Bauchfett, wer weiÃ, der Ãbergang ist nahtlos. In ihrem Haar hat sich der Nieselregen verfangen und ein zartes weiÃes Netz gebildet. Graues Haar, weiÃes Netz. Früher waren Suzannas Haare dunkelblond mit einem Schuss Rot. Unschlagbare Kombination. Nimm ein Glas mit hochwertigem Cognac und halte es gegen das Licht der untergehenden Sonne von Neapel, und du hast das Bild.
Ich weià nicht, ob ich das schon erwähnt habe, aber früher war Suzanna eine Schönheit. Früher haben die Männer Fieber bekommen bei ihrem Anblick. Manche Frauen auch.
Suzannas Beine: leichtes Fieber.
Suzannas Hintern: starkes Fieber.
Suzannas Taille, Brüste, Schultern: hyperpyretisches Fieber. Und wenn du ihr in die Augen gesehen hast, bist du bei zweiundvierzig Grad Celsius an Kreislaufversagen gestorben. Aber das sind nur Effekte, keine Vergleiche. Nur Beschreibungen, keine Bilder. Ich sehe Marlen fragend an, ich sage kein Wort.
»Vergiss es«, sagt sie, ohne den Kopf zu heben oder mit dem Herumgefummel im Schloss aufzuhören,
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