Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Zwerg reinigt den Kittel

Der Zwerg reinigt den Kittel

Titel: Der Zwerg reinigt den Kittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Augustin
Vom Netzwerk:
wenn Sie meinen.
    Â» Wir schaffen einen Ort der Geborgenheit. Wir setzen auf zufriedene, glückliche Gesichter. Lächeln ist erwünscht, Ausrufezeichen. Humor ist unser Pflegekonzept. Heitere Gelassenheit heilt nicht alles, aber vieles, denn, Doppelpunkt, wo kein Lachen, da kein Leben.«
    Â»Schau, schau«, sagt Marlen. Sie lehnt an einem grauen Mercedes der oberen Preisklasse und zupft abstehende Fäden aus ihrem Blazer, den vor Lichtjahren irgendein Klaus oder Peter bezahlt hat. Tailliert, goldene Knöpfe. Über allem schwebt lächelnd ein Hauch von Chanel No 5 .
    Ich zünde mir eine neue Zigarette an der alten an. Die Stummel am Boden sagen mir, dass wir jetzt seit zwanzig Minuten warten, Karlotta sagt, dass die Würde des Menschen unantastbar ist. Auch oder vor allem, wenn er alt und gebrechlich ist. Marlen winkelt das rechte Knie an und bohrt ihren Stilettoabsatz in den Mercedes.
    Â»Was jetzt: auch oder vor allem? «, sagt sie und reißt mit einem Ruck einen widerspenstigen Faden heraus.
    Ich weiß, dass ein Blazer nicht schreien kann und ein Auto auch nicht, aber ich glaube, ich habe beide gerade schreien gehört.
    Quäle nie ein Ding zum Scherz.
    Karlotta wedelt entnervt mit der Broschüre, aus der sie uns vorliest. » Auch wenn er alt ist, vor allem wenn er alt ist, trotzdem er alt ist – ist doch scheißegal!«
    So viel zur Würde des Menschen.
    Gleich ist der Sinn des Lebens dran, wetten?
    Â»Und das mit dem Sinn des Lebens ist mir auch nicht ganz klar«, sagt Marlen.
    Gewonnen.
    Â»Ich meine: Sinn finden im Werden, das lasse ich mir ja noch einreden. Prinzip Raupe und Schmetterling. Gerade warst du noch eine niedliche kleine Raupe, jetzt bist du ein widerlicher Fötus im Kokon und auf dem besten Weg, ein fetter grauer Nachtfalter zu werden. Macht Sinn.«
    Â»Larve«, sagt Karlotta und wedelt. »Es heißt Larve, nicht Fötus.«
    Â»Sinn finden im Sein«, sagt Marlen, »ist auch noch okay. Du schlüpfst aus dem Kokon und bist für den Rest deines Lebens ein fetter Falter, mit allem, was dazugehört. Du frisst, du vermehrst dich, du ruinierst Zimmerpflanzen oder ganze Wälder. Ein Schädling. Macht Sinn.« Sie stellt das rechte Bein ab und winkelt das linke Knie an, der Mercedes stöhnt. »Aber dann, ganz am Ende, da packt dich die Sehnsucht. Nach Wärme oder nach Freiheit, eins von beidem, man kann nicht auf zwei Trauerfeiern zugleich tanzen, du musst dich entscheiden: Entweder du verbrennst an der Glühlampe oder du klatschst an die Fensterscheibe, womit wir beim Vergehen wären, und da frage ich mich schon, wo da der verdammte Sinn …«
    Ich blase Rauch aus, Marlen verschwindet hinter einem zartblauen Nebelschleier. Ich drehe den Kopf und blase wieder Rauch aus, Karlotta verschwindet, und dann frage ich mich auch etwas.
    Ich frage mich, was wohl der Besitzer des grauen Mercedes gerade so treibt. Schätze, er sitzt in einem der Bürobauten links oder rechts vom Einkaufszentrum und führt gerade ein extrem wichtiges Telefonat. Schätze, so ein juveniler Typ in Anzug und Krawatte, der ständig extrem wichtige Telefonate führt. Abends kommt er dann nach Hause zu seiner Frau und sagt: Schatz, ich habe schon wieder den ganzen Tag extrem wichtige Telefonate geführt und damit ein Schweinegeld verdient.
    Ich will gar nicht wissen, was seine Frau dann sagt.
    Du bist der Größte.
    Ich liebe dich.
    Etwas in der Art, egal, auf jeden Fall sieht sie ein bisschen aus wie Marlen vor vierzig Jahren, nur dass Marlen in solchen Fällen nie etwas gesagt hat. Sie hat einfach die Hand aufgehalten. Jetzt stellt sie das linke Bein wieder ab und winkelt das rechte wieder an.
    Â»Sinn finden im Vergehen«, sagt sie, »ist Schrott.«
    Stöhn sagt der Mercedes, und ich frage mich, was der juvenile Typ am Telefon wohl tun würde, wenn er es wüsste.
    Wenn er wüsste, dass gerade eine aufgetakelte alte Hexe an seiner Luxuskarre lehnt und mit ihrem Stilettoabsatz kleine Löcher in die Fahrertür bohrt. Wenn er wüsste, dass neben der Hexe ein verfettetes altes Weib sitzt, auf dem Boden, im schmuddeligen Jogginganzug, und die edel lackierte Tür als Rückenstütze missbraucht.
    Kann sein, er würde sich mitten im Telefonat zu der einen oder anderen soliden Gewaltphantasie hinreißen lassen, kann sein. Fest steht, dass wir schon seit zwanzig Minuten unterwegs sein müssten und der

Weitere Kostenlose Bücher