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Der Zwerg reinigt den Kittel

Der Zwerg reinigt den Kittel

Titel: Der Zwerg reinigt den Kittel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Augustin
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Lack sich nie wieder von der Demütigung durch Suzannas Schmuddeljogger erholen wird.
    Vor fünf Minuten hat Karlotta die Broschüre aus der Armeejacke gezogen. Die Broschüre gehört zu dem Altenheim, das wir heute besichtigen. Angeblich werden wir abgeholt, zumindest behauptet das Karlotta.
    Â»Wir werden gleich abgeholt«, hat sie gesagt. »Haustaxi mit Chauffeur, kostenfrei, die Führung auch, ich habe mit dem Heimleiter telefoniert, er freut sich.«
    Das war vor zwanzig Minuten, wie gesagt.
    Vor zehn Minuten hat sich Suzanna ächzend auf den Asphalt sinken lassen. So könnte man das nennen, aber nur, wenn einem nichts Besseres einfällt. Sinken ist nicht wirklich gut. Sinken klingt zu sehr nach gleiten, klingt zu sehr nach geschmeidig. Ächzend entkräftet das natürlich ein bisschen, aber nicht in dem Maß, wie es notwendig wäre.
    Â»Wie würdest du das nennen?«, frage ich Marlen, und bevor ich sagen kann, wovon ich rede, antwortet Marlen: »Eine Frage der Kombination, wie meistens. Kombiniere sinken mit Titanic, und du hast das Bild.«
    Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen: Es ist unmöglich zu wissen, wovon jemand redet, bevor er es gesagt hat.
    Gedankenlesen.
    Teufelszeug.
    Suzanna kichert. Sie rollt gerade ihre Hosenbeine hoch und hat offenbar mitbekommen, dass von ihr die Rede ist.
    Ziemlich witzig das mit der Titanic, keine Frage, und ein wirklich gutes Bild. Schon deswegen, weil die Titanic fast drei Stunden gebraucht hat, um unterzugehen. Wie lange Suzanna gebraucht hat, kann ich schwer einschätzen. Fest steht: Es hat gedauert. Und: Es war ein komplizierter Vorgang, schon aus statischen Gründen.
    Ãœberhaupt ist so etwas wie Suzanna rein statisch betrachtet gar nicht möglich, vor allem im Stehen: der Rumpf eines Wals, die Hüften eines Knaben, die Oberschenkel eines Flamingos, und ab dem Knie, nun ja.
    Suzanna Otte, ein Wunder der Natur: Moby Dick auf Stelzen.
    Â»Nicht schlecht«, sagt Marlen und grinst mich an. »Ein ziemlich gutes Bild, nur leider unvollständig. Wie würdest du das nennen, das …«, sie sucht nach einem Wort, »das Zeug unter den Knien?«
    Â»Hört mir hier eigentlich jemand zu?« Karlotta wedelt.
    Nun ja. Von den Knien abwärts werden die Stelzen schlagartig zu etwas völlig anderem und münden in etwas, das sich nur schwer beschreiben lässt. Ich versuche das erst gar nicht, aber so, wie Suzanna jetzt dasitzt, mit hochgerollten Hosenbeinen, und ihre nackten Waden massiert, denke ich an gekochte Weißwürste kurz vorm Platzen. Die Würste sind behaart.
    Â»Die Mahlzeiten«, sagt Karlotta nachdrücklich, »können in gemütlicher Atmosphäre im Speisesaal genossen werden. Mittags stehen unseren Bewohnern zwei Menüs zur Auswahl, gegen Aufpreis werden spezielle Diäten angeboten.
    Schonkost.
    Natriumarme Kost.
    Fleischlose Kost.«
    Â»Wann«, sagt Marlen und tippt mit einem ihrer hochhackigen Pumps gegen eine von Suzannas Würsten, »hast du die zuletzt rasiert?«
    Â»Rasiert?«, sagt Suzanna und gähnt.
    Ich werde die fleischlose Kost nehmen.
    Â»In unserer Pflegeeinrichtung betreuen wir hochdemente Menschen, Menschen mit Bewegungseinschränkungen oder Behinderungen, Menschen mit apallischem Syndrom, Menschen mit Spätfolgen ihrer Grunderkrankung, Klammer auf, Multiple Sklerose, Parkinson, Diabetes mellitus, Klammer zu, multimorbide Menschen mit hohem Pflegeaufwand sowie Menschen mit fehlenden sozialen Kontakten.«
    Â»Psychisch kranke Menschen?«, sage ich.
    Karlotta sieht nach.
    Â»Auch das«, sagt sie. »Steht ganz unten.«
    Â»Der Laden ist kein Altenheim«, sagt Marlen, »sondern eine Mülldeponie. Und was zur Hölle ist ein apallisches Syndrom?«
    Karlotta zeigt auf Suzanna, die mit leerem Blick auf ihre Würste starrt und zum zweiten Mal gähnt, gleich wird sie einschlafen.
    Â»Wachkoma«, sagt Karlotta.
    Dann liest sie uns weiter aus der Informationsbroschüre über die Mülldeponie vor, in der wir vielleicht den Rest unseres Lebens verbringen werden.
    Wir erfahren, dass die Zwei- und Dreibettzimmer mit zwei bis drei höhen- und lagenverstellbaren Betten ausgestattet sind, mit zwei bis drei Pflegenachttischen und einer Notrufanlage.
    Wir erfahren, dass die Nasszelle aus einem Waschbecken mit Haltegriffen, einer Toilette mit Haltegriffen und einer ebenerdigen Duschtasse besteht.

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