Der Zwerg reinigt den Kittel
»da gibt es kein Bild. Sie war eine Schönheit, und aus.«
Dann legt sich Marlens freie Hand ganz nebenbei und nur für einen Moment auf Suzannas Kopf. Die knochigen Finger mit den roten Spitzen tauchen durch das Nieselnetz und tiefer ins spröde Grau. Es sieht aus, als hätte jemand Rubine in Suzannas Haar geflochten, oder winzige Flammen.
»Träum süÃ, Moby Dick«, murmelt Marlen.
»Medizinische Grundversorgung, Doppelpunkt.
Injektionen.
Infusionen.
Klistiere und Einläufe.
Fachgerechte Wundpflege.
Anlegen von Kompressionsverbänden.
Blasenkatheter legen, wechseln und spülen.«
Ich weià auch nicht, aber mir wird das langsam unheimlich, was Karlotta da vorliest. Wir sind alle nicht mehr die Jüngsten, klar, und Suzannas Würste könnten den einen oder anderen Kompressionsverband vertragen, aber von einem mit viel Humor in unsere Harnröhren geschobenen Gummischlauch sind wir weit entfernt.
Ich glaube, Marlen sieht das auch so.
Bei »Klistiere und Einläufe« hat sie die Augenbrauen nach oben gezogen, bei »Blasenkatheter« sind die Brauen bis zum Haaransatz hochgeklettert.
Gefahr in Verzug.
Alles in Deckung.
Ich ziehe den Kopf ein, Karlotta sagt »Anlegen und Wechseln von Einlagen bei Stuhlinkontinenz«, Marlen stöÃt sich mit einem Ruck von der Fahrertür ab. Mein Kopf schrumpft zur Erbse, Karlotta merkt nichts. »Stomaversorgung und -behandlung bei künstlichem Darmausgang«, sagt sie.
Marlen stemmt beide Beine samt Absätzen in den Asphalt, sie stemmt die knochigen Hände in die noch knochigeren Hüften, die Nagelspitzen bohren sich in das Fleisch, das nicht da ist, alles schreit oder stöhnt, und keiner hört es auÃer mir, weil ich so sensibel bin. Jetzt öffnet sich ihr knallrot geschminkter Mund, das Tor zur Hölle geht auf, die Dämonen stehen schon in den Startlöchern, ich kann sie sehen.
Asmodäus, der Zornige, bewaffnet mit dem blutigen Streitkolben.
Belial, der Niederträchtige, Ankläger wider die Unschuldigen.
Akephalos, der Mordlüstige, Lilith, die Boshafte, und wie sie alle heiÃen, es sind viele, ihr Name ist Legion, in ein paar Sekunden werden sie losbrechen und sich als Schwall giftiger Worte aus Marlens Mund ergieÃen. Sie werden Karlotta wegschwemmen wie ein sintflutartiger Einlauf ein winziges Stück ScheiÃe.
Mein Kopf schrumpft zur Linse, schrumpft zum Pfefferkorn, noch zwei, noch eins, Marlen sagt:
Nichts.
Sie sagt nichts. Der Mund klappt wieder zu, die Brauen erschlaffen, ich kann das enttäuschte Raunen der Dämonen hören, tief in Marlens Innerem. Ich sehe sie an, und diesmal weià ich es.
Ich weiÃ, was du denkst.
Marlen presst die Lippen zusammen und lehnt sich wieder an die Fahrertür.
Tot.
Ohne Karlotta wärst du jetzt schon tot, du alte Hexe.
Wir wären alle drei schon tot, wenn Karlotta uns nicht angerufen hätte vor ein paar Tagen. Verhungert oder vertrocknet, in unseren Betten. Verbrannt.
Karlotta Könick, Retterin in der Not. Schutzheilige aller vereinsamten alten Frauen, die in ihren Wohnungen herumliegen und keinen Grund mehr haben aufzustehen. Erzengel mit Flammenschwert und Telefonhörer.
Und ich verkündige euch die frohe Botschaft: Mir ist langweilig. Ruft mich an, aber zackig!
2
Keine Ahnung. Fragen Sie doch Karlotta.
Fragen Sie Karlotta, warum sie sich gemeldet hat, aus dem Nichts einer Laune heraus, nach vierzig Jahren Funkstille. Sie hat uns allen dreien auf den Anrufbeantworter gequatscht, erst Suzanna, dann Marlen, dann mir, es war immer der gleiche Text, Mir ist langweilig und so, ich meine, bei allem Respekt: Das ist ein weites Feld, wie man so sagt.
Geh in eine Bibliothek und fang an, alle Bücher über Langeweile zu lesen, die es dort gibt, und du hast richtig gut zu tun die nächsten vierzig Jahre.
In den meisten Büchern steht, dass Langeweile etwas mit Lustlosigkeit zu tun hat und mit innerer Leere. Da steht, dass Langeweile gut ist, weil sie dich dazu zwingt, über dich selbst nachzudenken. Ãber deine innere Leere zum Beispiel, und das wird dann ziemlich schnell ziemlich existentiell.
Selbstreflexion, Selbsterkenntnis, ScheiÃdreck, würde Karlotta sagen, und dass Langeweile etwas für Pazifisten ist. Der Krieg, würde Karlotta sagen, ist das einzig Existentielle im Leben des Menschen. Ohne Krieg bist du kein Mensch, sondern etwas anderes, zum Beispiel ein Pazifist. Aber
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