Der Zypressengarten
mitfühlende, liebende menschliche Wesen zu sein. Im Laufe des Lebens stehen wir immer wieder vor der Wahl, treffen Entscheidungen, die Menschen um uns und unsere eigene Zukunft beeinflussen.
Stell dir einen Kieselstein vor, der in einen Teich fällt. Vielleicht denkst du, der Stein sinkt schlicht auf den Teichgrund, aber das stimmt nicht. Er verursacht Wellen, die bis zum Ufer reichen und auf die Erde schwappen. Eine Hummel, die am Teichrand zu ertrinken droht, kann sich dadurch auf ein Blatt retten. Sie fliegt weg und landet auf einem Kinderarm. Das Kind betrachtet sie voller Staunen und entwickelt so eine Liebe zur Natur. Seine Eltern streiten gerade, aber die Mutter sieht die Hummel und kriegt Angst, dass ihr Kind gestochen werden könnte. Beide Eltern eilen dem Kind zu Hilfe und vergessen ihren Streit, vereint in ihrer Sorge um das Kind. Die Hummel fliegt weg und … tja, du kanst die Geschichte beliebig weiterspinnen.
Der springende Punkt ist, dass nichts, was du tust, isoliert geschieht. Deshalb sind deine Entscheidungen wichtig. Wenn du dich entscheidest, an einem Groll festzuhalten, schaffst du eine unglückliche Zukunft, weil du jede Entscheidung aus deiner Wut heraus fällst. Marina verliebte sich in deinen Vater und hat ihn geheiratet. Es ist nicht mehr relevant, ob sie ihn deiner Mutter weggenommen hat oder aus einer unglücklichen Ehe gerettet. Und, glaub mir, jeder der Beteiligten hat seine eigene Version der Geschehnisse und jeder eine andere. Aber du, Clementine, entscheidest selbst, wie du reagierst. Du bist jetzt erwachsen und baust dir eine eigene Zukunft auf. Wenn du dich emotional befreist, ihnen deinen Segen gibst und versuchst, das Gute in Marina zu sehen, statt nach dem Schlechten zu suchen, schaffst du eine glücklichere Gegenwart für dich.«
Sie dachte eine Zeit lang nach, den Blick aufs Meer gerichtet. »Ich habe Marina nie eine Chance gegeben«, sagte sie leise. »Ich war immer nur wütend auf sie, weil sie mir Daddy weggenommen hat.«
»Dein Vater ist noch hier. Vielleicht musst du die Größere sein und ihm die Hand reichen.«
»Bei dir hört es sich so einfach an.«
»Nun, wir sind keine Karikaturen, sondern komplizierte, mit Fehlern behaftete menschliche Wesen. Die Liebe ist größer als wir alle. Mach dir einfach klar, dass sie ihre Gründe hatten. Es waren wahrscheinlich nicht die, die du denkst. Entscheide dich bewusst, sie loszulassen, denn sie sind wie ein gigantisches Schiff, dass du durch die Wellen ziehst. Schneid das Tau durch, mach dich frei davon. Du kannst trotz des schrecklichen Starts, den du in deinem Leben hattest, zu Großem aufsteigen.« Er lächelte mitfühlend. »Aber wahrscheinlicher wirst du es wegen ihm.«
»Du hast gesagt, ich soll Marina nach ihrer Seite der Geschichte fragen.«
»Vielleicht irgendwann mal hier unten am Strand, wenn ihr allein und ungestört seid. Dann könntest du sie bitten, dir zu erzählen, was passiert ist. Aber nur, wenn du bereit bist, ihr vorurteilsfrei zuzuhören. Du musst dich hinreichend distanziert haben, damit du nicht alles wieder auf dich beziehst.«
»Du bist sehr weise, Rafa.«
»Das sagt jeder, doch es stimmt nicht. Ich lerne noch, suche noch.«
»Trotzdem scheinst du schon eine Menge zu wissen.«
»Je mehr man weiß, umso klarer wird einem, was man alles noch lernen muss.« Er schenkte sich Wein nach. »Mehr?«
Sie nickte. »Du weißt hoffentlich, dass du mich den Weg wieder nach oben tragen musst.«
»Noch ein paar Gläser, und ich trage dich den ganzen Weg nach Hause.«
Während sie redend im Sand saßen, war die Flut nähergekommen. Orange senkte sich die Sonne am Horizont und färbte die Wolken am blassblauen Himmel tiefviolett. Dieses Bild, untermalt vom rhythmischen Schlagen der Wellen und den melancholischen Rufen der Möwen, war so ungeheuer romantisch, dass Clementine sicher war, er würde sich zu ihr beugen und sie küssen. Ihr Herz pochte in freudiger Erwartung. Sein eindringlicher Blick, sein Lächeln, sein verspieltes Necken, alles waren deutliche Anzeichen, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. Der Wein machte Clementines Sinne wacher, und sie konnte jede Schwingung zwischen ihnen wie ein elektrisches Knistern fühlen.
In dem Moment, als sie gerade dachte, dass er sie küssen würde, wehte das verängstigte Bellen eines Hundes vom Ende der Bucht herbei, wo das Meer gegen die Felsen krachte.
Rafa stand auf. »Hörst du das?« Er sah in die Richtung. »Ich kann ihn nicht sehen.
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