Der Zypressengarten
meine piccolina, wirst du nie verloren sein.«
Elio beobachtete seine Tochter wie ein Löwe eine ahnungslose Gazelle. Er beobachtete, wie sie vor sich hin summte, als sie in die Wohnung kam, und wie beschwingt ihr Gang war, als sie wieder ging. Dann setzte er sich hin und schrieb einen Brief, der sein Schicksal für immer verändern sollte.
Der Mesner hatte Elios Flaschen alle in die Toilette ausgekippt. In der ganzen Wohnung war kein Tropfen Alkohol mehr, doch das scherte Elio nicht, denn seine Gedanken waren auf ein höheres Ziel fixiert, und dafür brauchte er sowieso einen klaren Kopf. Zum ersten Mal seit Jahren war er mit einem Gefühl von Entschlossenheit aufgewacht. Ein Kribbeln durchfuhr ihn, als er über die Notlage seiner Tochter nachdachte und wie nützlich sie ihm sein konnte.
Beppe Bonfanti war einer der reichsten Männer des Landes. Niemals würde er erlauben, dass sein Sohn und Erbe ein Mädchen aus einer unbedeutenden Kleinstadt in der Toskana heiratete. Sie mochte sich selbst etwas vormachen, und Dante redete sich vielleicht ein, dass sie zusammen weglaufen und glücklich bis an aller Tage Ende leben könnten. Aber die Wahrheit war für jedermann offensichtlich, der so viele Jahre auf dem Buckel hatte wie Elio. Das würde nie passieren. Seine Tochter wurde ganz sicher nicht die Frau eines Millionärs, deshalb musste er aus der Situation herausschlagen, was er irgend konnte.
Er kicherte vor sich hin, während er den Brief an Beppe schrieb. Schnelles, leichtes Geld war ihm näher denn je. Er war ein furchtbarer Vater gewesen, doch jetzt hatte er die Chance, es bei seiner Tochter wiedergutzumachen. Er konnte nicht verlangen, dass Dante sie zu einer ehrbaren Frau machte, aber er konnte Geld für sie und das Kind verlangen – und noch ein bisschen extra, für alle Fälle.
Floriana hatte entschieden, niemandem außer Signora Bruno von ihrem Fortgang zu erzählen. Sie würde einfach weggehen, und Signora Bruno konnte ihrem Vater erzählen, dass sie weggezogen war, um woanders ein neues Leben anzufangen. Er konnte es Tante Zita sagen. Allerdings stand sie tief in Pater Ascanios Schuld, und so war es nur recht, dass sie hinging und ihm für seine Freundlichkeit dankte.
Am Tag bevor sie wegging, hüpfte sie leichten Herzens durch die Straßen. Ihre Zukunft ängstigte sie kein bisschen. Vielmehr freute sie sich darauf, in eine neue Stadt zu ziehen und ganz von vorn anzufangen. Dort würde niemand sie bemitleiden, weil ihre Mutter sie verlassen hatte und ihr Vater sich jeden Abend betrank und beim Kartenspiel schummelte. Keiner würde irgendetwas über sie wissen. Sie könnte sich als Mutter mit einem kleinen Kind und einem gut aussehenden Ehemann, der in Mailand arbeitete, neu erfinden. Niemand musste wissen, dass sie nicht verheiratet waren. Überrhaupt musste keiner etwas über sie wissen. Sie würde ein neuer Mensch werden.
An diesem kalten Novembermorgen las Pater Ascanio die Messe. Floriana setzte sich ganz hinten in die Kirche und wartete, bis die Messe zu Ende war. Dann versammelte sich die übliche Gruppe auf dem Platz, und es verging eine halbe Stunde, bis die letzten Kirchbesucher gegangen waren. Pater Ascanio lächelte freundlich, als er sie sah. Sie stand ein wenig abseits, ihren Mantel fest um ihre Schultern gezogen und die Arme verschränkt, um sich vor der Kälte zu schützen. Ihr Haar wehte ihr ins Gesicht, das blass und eingefallen war, jedoch schöner aussah als jemals zuvor. Sie hatte nichts Kindliches mehr.
»Floriana«, sagte er und ergriff ihre Hände.
»Ich bin gekommen, um Ihnen zu danken.« Sie senkte den Blick, denn zu ihrem Schrecken kamen ihr die Tränen. Pater Ascanio und seine Kirche waren ihr ein Zuhause gewesen. Jetzt ging sie fort und war nicht sicher, ob sie beide noch einmal wiedersehen würde.
»Weine nicht, mein Kind. Gott wird immer bei dir sein, egal wo auf der Welt du bist.«
»Sie waren so gütig, so verständnisvoll und weise. Ich begreife erst jetzt, wie viel Sie für mich getan haben.« Ihre Stimme kippelte, und sie konnte nicht weitersprechen.
»Komm, lass uns hineingehen. Es wird kalt.«
»Darf ich beichten, Pater?«
»Wenn du dich dann besser fühlst.«
»Ja, ein letztes Mal.«
Sie kniete sich in den dunklen Beichtstuhl und öffnete ihr Herz, wie sie es noch nie getan hatte. Sie sprach von ihrer Mutter, von dem schrecklichen Gefühl, verlassen zu sein. Sie redete über ihren Bruder, ihren Kummer wegen seinem plötzlichen Verschwinden und ihre
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