Der Zypressengarten
nachdem sie sich beide fast irgendwie ihre Gefühle gestanden hatten. Und dennoch hatten sie es nicht ausgesprochen. Clementine wünschte, Rafa würde den Wagen anhalten und sie küssen. Es wäre wie ein klärendes Gewitter nach tagelanger drückender Schwüle. Doch er fuhr weiter, parkte vor Joes Haus und kam um den Wagen herum, um ihr die Tür zu öffnen.
»Möchtest du, dass ich auf dich warte?«, fragte er.
Zu gerne würde sie nach oben laufen, sich ihre Taschen schnappen und mit Rafa in den Sonnenuntergang fahren. »Nein, ist schon gut, danke«, sagte sie stattdessen. »Ich weiß nicht, wie lange es dauert.«
»Soll ich Marina vorwarnen?«
»Nein, sag nichts. Ich erzähle es ihr selbst, wenn ich sie sehe.«
»Sie wird sich sehr freuen. Ich glaube, sie vermisst dich.«
Clementine seufzte. »Ehrlich gesagt, vermisse ich die anderen auch. Ich wusste gleich, dass es ein Fehler war. Mir tut es wegen Joe leid.«
»Schick mir eine SMS, falls du Unterstützung brauchst.«
»Nach der Heldentat gestern bezweifle ich nicht, dass du mich retten kämst, wenn ich dich brauche.«
»Du weißt, dass ich es würde.« Er sah ihr nach, als sie zur Tür ging und aufschloss.
»Auf geht’s«, sagte sie stumm in seine Richtung, ehe sie im Haus verschwand.
Rafa fuhr zurück zum Polzanze. Er ließ sich Zeit, die üppige Landschaft und die Wattebauschwolken zu genießen, die der Wind über den dunkler werdenden Himmel scheuchte. Allmählich fing er an, es hier richtig zu mögen; besonders jedoch überraschte ihn, dass er anfing, Clementine zu lieben.
Seine Wangenmuskeln spannten und entspannten sich abwechselnd, als er daran dachte, dass er sie um ein Haar geküsst hätte. An einem anderen Ort, zu einer anderen Zeit hätte er sie schon vor Tagen in seine Arme gerissen und geküsst – in dem Haus, das Gott vergaß, im Meer und als sie wütend auf ihn war und ihn aufforderte zu gehen. Und er hätte sie seitdem noch unzählige andere Male geküsst, denn sein Verlangen wurde zunehmend stärker. Aber eine Sache stand ihm im Weg.
Er blickte starr geradeaus und fuhr weiter.
30
Marina und Grey saßen am Küchentisch und waren beinahe fertig mit dem Abendessen, als Clementines Wagen vor dem Hotel vorfuhr. Sie stieg aus und blieb eine Weile im Dunkeln stehen, um sich für die Begegnung mit den beiden zu wappnen. Bei Joe einzuziehen, war für sie ein Trotzakt gewesen, aber leider musste sie sich jetzt eingestehen, dass es wohl eher ein Hilfeschrei war. Und die anderen hatten nicht so reagiert, wie sie es sich vorstellte. Zumindest hatten sie sich nicht anmerken lassen, dass es ihnen etwas ausmachte.
Clementine dachte an Rafa und seinen Rat. Es war Zeit, mit Marina zu reden. Im Vermeiden waren die Engländer ganz groß. Lieber taten sie endlos lange so, als gäbe es ihre Probleme nicht. Und Clementines Familie war in dieser Beziehung extrem. Sie sprachen nie über die Vergangenheit oder offen über ihre Gefühle. Nun hatte Rafa ihr Mut gemacht, genau das zu tun. Sie wollte sich die Version ihrer Stiefmutter anhören, sie akzeptieren und die Geschichte dann endgültig hinter sich lassen.
Clementine holte ihre Tasche aus dem Kofferraum, atmete einmal tief durch und marschierte zum ausgebauten Stallblock. Marina hörte, wie die Tür geöffnet wurde, und dachte, es wäre Jake. Als Clementine in der Küchentür erschien, war sie sprachlos.
Grey bemerkte die Reisetasche im Flur hinter ihr. »Clementine!«, rief er freudig. »Wie schön, dich zu sehen.«
»Ist alles in Ordnung?«, fragte Marina und griff nach ihrem Weinglas.
»Ich bin wieder nach Hause gekommen«, sagte Clementine.
Marina wusste, dass es auf ihre Reaktion ankam, wenn sie verhindern wollte, dass das Mädchen gleich wieder weglief. »Möchtest du darüber reden?«, fragte sie vorsichtig.
»Ich habe mit Joe Schluss gemacht.«
»Komm und setz dich, Liebes. Ich denke, du kannst einen Drink vertragen, stimmt’s?« Grey stand auf, um ihr ein Glas zu holen.
»Ich hätte überhaupt nicht ausziehen dürfen.«
Marina fiel auf, dass die dunkle Wolke, die Clementine für gewöhnlich immer umgab, nicht mehr zu spüren war. Sie hatte ihr Schwert niedergelegt und war in Frieden gekommen. »Ich bin froh, dass du wieder hier bist«, sagte sie ehrlich. »Es tut mir leid, dass es mit dir und Joe nicht geklappt hat. Das muss eine ziemliche Enttäuschung sein. Aber ich bin wirklich froh, dich wieder hier zu haben.«
»Nein, enttäuscht bin ich nicht. Ich habe Joe nie besonders
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