Der Zypressengarten
sie schon den Großteil ihres Lebens suchte. Jetzt war sie in Italien, und das Polzanze schien sehr weit weg, irgendwie unwichtiger. Marinas Blickwinkel war ein anderer, und die Fassade geriet ins Bröckeln. Vielleicht war das Polzanze von Anfang an nichts anderes als eine Kulisse gewesen, hinter der sich das eigentlich Wichtige verbarg – das Einzige, was jemals von Bedeutung gewesen war.
Sie wischte sich eine Träne ab und ermahnte sich im Stillen, an ihren Plan zu denken.
Es war früher Abend, als sie das Tor von La Magdalena erreichten. Das Licht wurde weicher, die Schatten verlängerten sich.
Der gelbe Palast am Ende der Einfahrt linste neugierig zwischen den Baumreihen hervor. Ein Wachmann beugte sich zu ihrem Fenster.
»Marina Turner«, sagte sie. Der Mann nickte und ging in sein Häuschen zurück, wo er den elektrischen Schließmechanismus betätigte. »Fahr«, sagte Marina zu Rafa.
Rafa fuhr langsam die Zufahrt hinauf. Er wagte nicht, Marina anzusehen, denn ihm war klar, dass sie weinte. Vor dem Haus hielt er an.
»Möchtest du vielleicht nach Herba fahren und dir die Stadt ein wenig ansehen?«, schlug sie vor. »Gib mir bitte ein paar Stunden.« Dann stieg sie aus und blieb stehen, offensichtlich um sich im Stillen Mut zuzusprechen. Sie betrachtete die Hausfassade, zupfte ihr Kleid glatt und strich sich übers Haar, ehe sie die Stufen zur Haustür hinaufstieg, wo sie ein livrierter Butler erwartete.
Rafa folgte der Küstenstraße nach Herba hinein, der kleinen Stadt, die ihm aus den Erzählungen seines Vaters so vertraut war. Auf ihren langen Ausritten durch die Pampa hatte er den Ort in allen Einzelheiten beschrieben, sodass Rafa jetzt sehen konnte, wie wenig sich hier verändert hatte, seit sein Vater als Junge mit seinem Bruder barfuß durch die Straßen gelaufen war.
Hier also hatte alles angefangen, dachte Rafa mit einem seltsam wehmütigen Gefühl.
Der Butler begrüßte Marina förmlich und führte sie durch die Schachbrettmusterhalle zu einer hohen Holzflügeltür. Auf sein Klopfen hin rief eine Stimme von drinnen »Avanti.« Marina hielt den Atem an und blinzelte ihre Tränen fort. Der Butler öffnete die eine Tür.
Mit stolz gerecktem Kinn und geradem Rücken trat Marina in das Zimmer.
Der Mann hinter dem Schreibtisch legte seinen Schreiber ab und blickte auf. Beim Anblick der Frau vor ihm wurde er bleich. »Mein Gott«, hauchte er und stand auf. Für einen Moment traute er seinen Augen nicht.
»Dante«, sagte sie leise. Sie konnte nicht noch näher kommen, weil ihre Beine gefühllos waren. Zitternd stand sie da, während der Mann um den Schreibtisch herum auf sie zukam und keine Sekunde die Augen von ihrem Gesicht abwandte, als fürchtete er, dass sie ebenso plötzlich wieder verschwinden könnte, wie sie aufgetaucht war. Bald trennten sie nur noch Zentimeter, und Marina erkannte, dass er ebenfalls feuchte Augen hatte. Er nahm ihre Hand, ohne sich darum zu scheren, dass ihm eine Träne über die faltige Wange rann.
»Floriana.«
34
Eine ganze Zeit blickten beide stumm in die Vergangenheit. Dante war gealtert, so wie sie. Sein Haar war grau und dünner, und Krähenfüße hatten sich tief in seine Schläfen gegraben. Die schattigen Tränensäcke unter seinen Augen zeugten von harter Arbeit und Enttäuschungen. Staunend musterte er ihre Züge. In seinem Kopf überschlugen sich die Fragen, doch seine Stimme ging im Tumult seiner Gefühle unter. Er hielt weiter ihre Hände, und seine zitterten genauso sehr wie ihre.
Schließlich zog er sie in seine Arme und drückte sie für einen Moment so fest an sich, dass sie keine Luft mehr bekam. Es war, als würden die letzten vier Jahrzehnte einfach verpuffen und sie wieder da sein, wo sie einst waren, nur äußerlich verändert.
Er lehnte seine feuchte Wange an ihre und schloss die Augen. »Du bist zurückgekommen«, flüsterte er. »Meine piccolina. L’orfanella. Du bist wieder da.« Als er sie losließ, lachten sie beide unter Tränen, ein bisschen beschämt, dass sie sich als erwachsene Menschen so benehmen konnten. »Komm mit, setzen wir uns nach draußen, damit ich dich im Licht sehen kann. Du hast dich überhaupt nicht verändert, Floriana, ausgenommen dein helleres Haar!«
»Ich färbe es«, antwortete sie verlegen. »Gefällt es dir nicht?«
»Es ist anders, und du sprichst Italienisch wie eine Engländerin.«
»Ich bin Engländerin.«
Er nahm ihre Hand und führte sie durch das Haus zur Terrasse. »Erinnerst du dich an deine
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