Der Zypressengarten
konntest ja sonst nirgends hin. Aber sie wiesen mich ab, erzählten mir, sie hätten nie von dir gehört. Natürlich glaubte ich nicht, dass du einfach fortgelaufen bist. Ich dachte, dass dir vielleicht etwas Angst gemacht hätte oder du das Vertrauen in mich verloren hattest.«
Er sah so unglücklich aus, dass es ihr fast das Herz brach. »Nein, Dante …«
»Allerdings hatte ich keine Sekunde vermutet, dass mein Vater Bescheid wusste. Er hat es mit keiner Silbe erwähnt. Bis zu seinem Todestag hat er nichts gesagt.«
»Ja, ich habe gelesen, dass er gestorben ist.«
»Hast du?«
»Vor sechs Monaten. Ich bewahre alle Zeitungsausschnitte über deine Familie auf – und heute gibt es das Internet, was es sehr viel leichter macht.«
»Ach, Floriana!«, stöhnte er.
»Dein Verlust tut mir leid.«
»Mir überhaupt nicht. Ich konnte ihn nie ausstehen.« Er schnitt ein Stück Käse ab. »Reden wir nicht über ihn. Erzähl weiter. Das Puzzle nimmt langsam Form an.«
Marina fiel es schwer, fortzufahren. Was nun kam, lag ihr wie ein Gewicht auf der Brust. »Ich habe einen Sohn geboren.«
»Wir haben einen Sohn?«
»Wir hatten einen Sohn, Dante.« Ihre Kehle wurde heiß und kratzig. »Einen wunderschönen kleinen Jungen, den ich fünf Monate stillte, in dem Kloster, bis er mir weggenommen wurde.«
»Wer hat ihn dir weggenommen?«
»Pater Ascanio.«
»Also wusste er die ganze Zeit, wo du bist?«
»Er hatte ja alles arrangiert«, antwortete Marina.
»Das verstehe ich nicht. Er sagte mir, dass er nicht wüsste, wo du bist. Er sagte, dass er für deine sichere Rückkehr betet«, murmelte Dante kopfschüttelnd. »Er hat mich belogen.«
»Nein, er wollte dich nur beschützen. Er sagte, dass er um unser beider Leben fürchtete …«
»Um unser Leben?«
»Ja. Er sagte, dass er uns nicht beschützen könnte, wenn wir in Italien blieben.«
»Vor wem denn beschützen?«
»Vor Beppe.«
Nach dem ersten Schrecken wurde er nachdenklich. »Das ergibt keinen Sinn, Floriana.«
»Du meinst, dass gar keine Gefahr bestand?«
»Nein, das behaupte ich nicht.« Er schien das eine Puzzleteil zu verwerfen, das nicht ins Bild passen wollte. »Erzähl weiter.«
»Pater Ascanio sagte, er könnte uns nur schützen, indem er das Kind weggibt. Mich schickte er nach England, wo ich untertauchen sollte, und wo er unseren Sohn hinschickte, weiß ich nicht …« Ihre Stimme kippte. »Ich hatte gehofft, dass du es weißt.«
Dante sah sie hilflos an. »Ich wusste ja nicht einmal, dass wir einen Sohn haben.« Dann verhärteten sich seine Züge, und er blickte gedankenverloren zu den Statuen. »Aber ich kenne jemanden, der es wissen könnte.«
»Pater Ascanio? Ich hatte ihm geschrieben, doch nie eine Antwort bekommen.«
»Er ist vor Jahren gestorben.«
»Wer dann?«
»Hast du mit niemandem sonst gesprochen, ehe du nach England gingst?«
»Nur mit der Mutter Oberin.«
»Sonst keinem?« Sie verneinte stumm. »Natürlich nicht. Allmählich wird manches klarer. Nach all den Jahren bekommen einige Dinge plötzlich einen Sinn. Überlass die Nachforschungen mir.«
»Wer?«, beharrte Marina.
Er umfing ihre Hand mit seinen. »Überlass das mir, Floriana. Du musst mir vertrauen.«
Ihre Schultern sackten ein. »Tue ich.«
Dann fiel ihr Rafa wieder ein. »Ach, du meine Güte, Rafa könnte jede Minute zurückkommen.«
»Rafa?«
»Ein argentinischer Künstler, der über den Sommer bei uns ist und unseren Gästen Malunterricht gibt. Mein Mann wollte nicht, dass ich allein herkomme, und Rafa bot an, mich zu begleiten. Ich habe ihm gesagt, er soll für ein paar Stunden nach Herba fahren und sich den Ort angucken.«
»Ich bitte Lavanti, sich um ihn zu kümmern, wenn er kommt. Keine Sorge.« Dante rief den Butler und instruierte ihn, Rafa in den Salon zu bringen. Dann, als Lavanti wieder gegangen war, sah Dante liebevoll Marina an. »Als du meine Sekretärin angerufen und ihr gesagt hast, du hättest Informationen über Floriana, wurde mir klar, dass ich zwar schon vor langer Zeit aufhörte, nach dir zu suchen, in meinem Herzen allerdings nie aufgegeben habe. Leider musste ich dich trotzdem irgendwann aufgeben. Und das plagt jetzt mein Gewissen.«
»Hast du geheiratet?«
»Vergib mir.«
Sie war verwundert. »Was soll ich vergeben?«
»Ich habe Costanza geheiratet.«
Rafa parkte den Wagen und wanderte durch den Ort. Die Luft war stickig und feucht. Abendlicht tauchte die alten etruskischen Mauern in ein flirrendes Orange. Tauben scharten sich
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