Der Zypressengarten
wie du wahrscheinlich selbst schon gemerkt hast.«
»Jake irrt sich nicht. Ich habe nach etwas anderem gesucht.«
»Das will ich nicht wissen«, platzte sie heraus und hielt sich die Ohren zu. »Erzähl’s mir nicht. Wenn du ein Geheimnis hast, behalte es bitte für dich.«
Er betrachtete sie staunend. »Aber ich möchte es dir erzählen. Ich will ehrlich zu dir sein.«
»Warum? Was soll das bringen? Du gestehst mir irgendwas Schreckliches, und dann sind wir keine Freunde mehr.«
»Nein, so ist es nicht.« Er ergriff ihre Hände und zog sie von Clementines Ohren.
»Doch, ist es. Du bist nicht hergekommen, weil du alten Frauen Malunterricht geben willst, oder?«
»Nein, aber …«
»Du hast uns aus einem bestimmten Grund ausgesucht.«
»Ja.«
Clementine stürzte in ein Gefühlschaos und entwand sich Rafa. »Dann verrate mir den Grund nicht, denn das würde ich nicht aushalten. Ich habe dir vertraut!« Sie war so durcheinander, dass sie blind weiterrannte.
»Clementine, warte! Es ist nicht so, wie du denkst. Ich habe keine bösen Absichten.«
Sie blieb stehen und drehte sich um, woraufhin ihr das Wind das Haar nach vorn blies. »Du kapierst es einfach nicht, oder?« Du kapierst nicht, dass ich dich liebe, schrie sie im Geiste. Dann rief sie laut: »Ich hoffe, du findest, was du suchst.«
Er blickte ihr nach. Natürlich könnte er hinter ihr herlaufen und ihr alles erzählen – denn inzwischen war er ziemlich sicher, an der richtigen Adresse zu sein. Nur wusste Grey nichts von Marinas Vergangenheit, und damit hatte Rafa nicht gerechnet. Wie würde es ihnen gehen, wenn er auf einmal ihre Welt auf den Kopf stellte und ihnen erzählte, wer er wirklich war? Er saß im Sand und lehnte den Kopf in die Hände. Ein Teil von ihm wollte zusammenpacken, nach Argentinien zurückkehren und diese ganze verworrene Geschichte hinter sich lassen. Aber ein anderer wusste, dass er mit Marina nach Italien fahren sollte. Falls noch Hoffnung bestand, Clementine zu gewinnen, musste er die ganze Wahrheit erfahren.
Clementine schluchzte in ihr Kopfkissen. Natürlich hätte sie sich anhören sollen, was er ihr sagen wollte. Ihr Auftritt war peinlicher als die schlimmste Soap gewesen, in der die Figuren dauernd voreinander wegliefen, statt zuzuhören, was die anderen ihnen erzählen wollten. Aber sie ertrug es nicht, mit anzusehen, wie Rafa von seinem Podest fiel. Unmöglich konnte sie riskieren, sich in eine Fälschung, ein clever konstruiertes Trugbild verliebt zu haben. Sie wollte nicht wie Sylvia enden und für die Liebe nichts als Zynismus übrig haben. Was nun? Konnte es zwischen ihnen je wieder wie vorher sein? Nein, sie hätte sich ebenso gut alles sagen lassen können, denn jetzt war sowieso schon alles anders, und sie hatte nicht mal die Befriedigung, zu wissen was oder wer er wirklich war.
Am nächsten Tag schlief das Polzanze noch, als sich Marina und Rafa vor dem Morgengrauen auf den Weg zum Flughafen machten. Sie nahmen den Zug über London nach Heathrow und flogen von dort nach Rom.
Rafa hatte so viele Fragen, die er stellen wollte, war jedoch nicht so dumm, sich in Marinas vermeintlich geheimes Abenteuer zu drängen.
Sie wusste ja nicht, dass es auch seines war.
Marina war nervös. Sie biss auf ihren Fingernägeln, saß unruhig und schaffte es nicht, in ihrer Zeitschrift zu lesen, die den gesamten Flug über auf derselben Seite aufgeschlagen blieb. Und sie war außergewöhnlich still, antwortete nur einsilbig, wenn Rafa sie ansprach. Das Croissant auf ihrem Tablett rührte sie nicht an.
Am Flughafen in Rom bat sie Rafa, ihnen einen Wagen zu mieten, was er in fließendem Italienisch erledigte, während sie wie ein Windhund vor dem Rennen auf und ab lief. Schließlich fuhren sie – gerüstet mit einer Karte und zwei Pappbechern Kaffee, durch die Toskana in Richtung eines kleinen Städtchens namens Herba.
Rafa konzentrierte sich auf die Straße, und Marina starrte hinaus auf die tintengrünen Zypressen, die breiten Pinien und die italienischen Bauernhäuser mit ihren roten Ziegeldächern und den sandfarbenen Mauern. Eine warme Brise wehte durch die offenen Fenster herein und brachte ihnen den Duft von wildem Thymian, Rosmarin und Pinien. Marina hatte ihren Ellbogen ins Fenster gelehnt und biss sich auf den Finger. Ihr war, als würde sie auf eine gewaltige Tür zurasen und nur eine einzige Chance bekommen, sie zu öffnen. Falls sie es nicht schaffte, würde sich die Tür für immer vor dem verschließen, wonach
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