Der Zypressengarten
es nicht über die Lippen brachte. In jenen trübsinnigen Stunden am Strand fragte sie sich gewiss, was sie außer ihm und ihrem kostbaren Hotel hatte, und zweifellos glaubte sie, es wäre nichts.
Er fühlte ein Ziehen an der Schnur und zwang seine Gedanken zurück ins Hier und Jetzt. Mit viel Geduld und Können holte er die Angel ein. Er spürte, dass es ein großer Fisch war. Ein Jammer, dass sie keinen vollbesetzten Speisesaal hatten, ihn zu genießen. Grey war stolz darauf, die Küche täglich mit frischem Fang zu versorgen. Manchmal fuhr er mit Dan Boyle und Bill Hedley raus, zwei Fischern aus dem Ort, die seit über fünfzig Jahren hier fischten. Dann brachte Grey genug für eine ganze Woche nach Hause.
Endlich tauchte der Fisch aus dem Wasser. Es war ein großer, glitschiger Wolfsbarsch, der sich hektisch freizuwinden versuchte. Grey vergaß Marina und ihren Kummer um das Kind, das sie nicht haben konnten, und ließ den Fisch ins Boot fallen. Er öffnete das weiche Maul und löste den Haken. Eine Welle von Freude überrollte ihn, als er den Fang bewunderte. Er musste wenigstens vier Pfund schwer sein.
Nachdem er den Köder erneuert hatte, warf er die Angel ein weiteres Mal aus. Er würde den ganzen Vormittag hier draußen verbringen, losgelöst von der Welt und ihren Sorgen. Solange er in seinem Boot saß, schien das Polzanze weit entfernt. Er wollte sich lieber nicht fragen, wie es Marina mit Rafa Santoro ergangen war. Glaubte er an die Macht des Gebets, hätte er eines für sie gesprochen. Er wusste, wie viel es ihr bedeutete, und was ihr wichtig war, war Grey noch wichtiger.
Rafa Santoro kehrte in sein Hotel zurück und suchte sich einen Tisch draußen an der Wand. Die Sonne war warm, und er saß im Windschatten. Eine kühne Möwe landete auf seinem Tisch, doch da er ihr nichts geben konnte, reckte der Vogel den Schnabel und flog weg, um jemand anderen zu belästigen. Rafa bemerkte zwei Mädchen an einem anderen Tisch, kichernd über ihrem Mittagessen sitzend. Er sah wieder weg. Schließlich wollte er die zwei nicht ermuntern, noch mehr zu gackern. Der Kellner nahm seine Bestellung auf – Cola, Steak und Pommes – und schlug die Gazette auf, die örtliche Klatschquelle Nummer eins.
Er war also angekommen. Nur wusste er nicht recht, wie er sich dabei fühlte. Teils war er freudig erregt, teils traurig, und Letzteres wohl, weil der wesentliche Teil von ihm überhaupt nichts empfand. Darüber wollte er ungern nachdenken. Der Kellner brachte sein Essen und die Cola, von der Rafa einen Schluck trank. Ihm entging nicht, dass ihn die beiden jungen Mädchen beobachteten, und ihre Bewunderung war ihm lästig. An jedem anderen Tag hätte er sie eingeladen, sich zu ihm zu setzen, hätte sie vielleicht sogar später mit auf sein Zimmer genommen und mit ihnen geschlafen. An jedem anderen Tag hätte allein dieser Gedanke genügt, dass er sich heiterer und für den Rest des Nachmittags beschwingter fühlte. Aber nicht heute. Er vergrub sein Gesicht in der Gazette und aß sein Mittagessen allein.
Die Mädchen gingen, wobei sie absichtlich an seinem Tisch vorbeischlenderten und ihm ihr hübschestes Lächeln zuwarfen. Er nickte höflich, verwehrte ihnen jedoch einen zweiten Blick. Die Möwe stürzte sich auf ihren verlassenen Tisch und stahl ein halb gegessenes Brötchen. Rafa sah auf seine Uhr. Jetzt war es in Argentinien früher Morgen, trotzdem wollte er mit jemandem reden. Also nahm er sein BlackBerry hervor und drückte die Kurzwahltaste. Lange musste er nicht warten.
»Rafa?«
»Hola, Mamá.«
»Gott sei Dank! Du hast dich seit einer Woche nicht gemeldet, und ich war krank vor Sorge. Geht es dir gut?«
»Ich bin angekommen.«
»Verstehe.« Ihre Stimme klang angespannt, und er konnte hören, dass sie sich hinsetzte, einen tiefen Seufzer ausstieß und mit dem Schlimmsten rechnete. »Und?«
»Es ist ein wunderschönes Herrenhaus mit Meerblick. Ich werde den Sommer dort wohnen und den Gästen Malkurse geben.« Er lachte zynisch. »Ich weiß selbst nicht, was ich erwartet hatte.«
»Du solltest gar nicht dort sein.«
»Beruhige dich, Mamá. «
»Was würde dein Vater sagen? Dios mío, was würde er nur sagen?«
»Er würde es verstehen.«
»Das glaube ich nicht.«
»Wie auch immer, er erfährt es nie.«
»Denk nicht, dass er dich nicht von da oben sieht. Nach allem, was er für dich getan hat, Rafa. Du solltest dich schämen.«
»Du brauchst mir kein schlechtes Gewissen zu machen. Das habe ich schon.
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