Der Zypressengarten
An Joe war rein gar nichts Tiefes, abgesehen von dem Loch, das sie sich gerade unabsichtlich grub, indem sie seine Einladung zum Mittagessen annahm.
Mr Atwood gestattete ihr eine Stunde, solange Sylvia da war und die Stellung hielt. Er war sehr zufrieden mit dem Geschenk für seine Frau, das hübsch eingewickelt und mit einer Schleife verziert war. Es sah aus, als hätte er sich große Mühe gegeben, das perfekte Geschenk zu finden. Sie wäre begeistert von dem Pürierer, und Rosa war ihre Lieblingsfarbe. Er unterschrieb die Karte, ohne sie sich anzusehen, und steckte sie zu dem Geschenk in die Tüte, ehe er nach dem Telefon griff und seine Geliebte anrief.
Im Hotel war der Speisesaal fast leer bis auf wenige Gäste, die am Fenster beim Essen saßen, und ein alte Ehepaar, das aus der Stadt gekommen war, um seine goldene Hochzeit mit einem teuren Mittagessen zu feiern. Heather bediente schläfrig, während Arnaud, der Sommelier, seinen gewaltigen Leib pompös durch den Raum bewegte und die silberne Tasse de dégustation schwenkte, die er an einer edlen Kette um den Hals trug.
Marina war viel zu glücklich, als dass sie sich über die leeren Tische beklagte. Sie hatte ihren Hauskünstler gefunden, der charmant, talentiert und nett war. Vor allem mochte Harvey ihn, und Harvey hatte eine gute Nase für Leute. Sie setzte sich an ihren Schreibtisch und begann, eine Liste von Dingen zusammenzustellen, die sie kaufen musste – trotz der wenigen Mittel, die ihr zur Verfügung standen. Sicher würde Rafa in Scharen Gäste anlocken, wenn sie ihn erst auf die Website gesetzt hatte. Shelton war für seine Schönheit und die vielfältige Vogelwelt berühmt, und könnte sie Leute von überallher gewinnen, die gerne all das malen lernen wollten, gelang es ihr sicher, das Hotel vor dem Bankrott zu retten.
Durch die offenen Fenster wehten Meeresrauschen und Möwenschreie herein, die Marinas Gedanken aufs Wasser lenkten. Ihr geheimer Schmerz wohnte verstreut in den Wellen und dem Wind. Für einen Moment empfand sie einen überwältigenden Kummer. Ihre Hand mit dem Stift erstarrte, und Marina war drauf und dran aufzugeben. Doch dann erinnerte sie sich an ihr geliebtes Polzanze, an das Haus, das sie zu einem wunderschönen Hotel umgebaut hatte. Es hatte die Entschlossenheit und die Energie einer Frau gebraucht, die mit ihren Händen schaffen wollte, was ihr Körper nicht schaffen konnte. Das Polzanze hielt sie am Leben, als ihr Kummer sie zu zerbrechen drohte. All ihre Liebe hatte sie in den Entwurf und den Umbau gesteckt. Ohne die wäre sie verloren gewesen. Nun schrieb sie weiter, bis das Tosen des Ozeans und die Schreie der Möwen zu einem dumpfen Klagen verblassten.
Sie wurde durch ein zartes Klopfen am Fenster unterbrochen und sah auf. Dort stand Mr Potter, der Gärtner, der sein Rauschebartgesicht an die Scheibe presste. Als er sah, dass sie ihn bemerkt hatte, nahm er seine Schirmmütze ab, schenkte ihr ein zahnloses Grinsen und bedeutete ihr, zu ihm nach draußen zu kommen. Seufzend stand Marina auf.
»Tut mir leid, ich habe es total vergessen«, sagte sie und lehnte sich aus dem Fenster. »Die Wicken.«
»Genau die, Mrs Turner.«
»Warten Sie eine Minute, bis ich mir die Stiefel angezogen haben, dann bin ich bei Ihnen.«
»Entschuldigen Sie die Störung. Sie sahen ziemlich beschäftigt aus.«
»Nein, schon gut. Der Garten ist genauso wichtig wie das Haus.«
Seine grauen Augen unter den weißen Zuckerwattebrauen blitzten. »Und ob er das ist.«
»Ich treffe Sie beim Gewächshaus.« Sie zog sich vom Fenster zurück und beobachtete mit einem Anflug von Zuneigung, wie der alte Mann seine Mütze wieder aufsetzte und losstapfte. Seine steife Hüfte ließ ihn ein wenig humpeln.
Als sie gerade hinausgehen wollte, fiel Marina die Postkarte von Katherine Bridges wieder ein, und sie zog sie aus ihrer Tasche. Während sie den Text nochmals las, stahl sich ein Lächeln auf ihr Gesicht. Sie dachte an die alte Freundin, die inzwischen in den späten Sechzigern war und nun am Rande des Lake Windermere in British Columbia lebte. Die Liebe hatte sie ans andere Ende der Welt verschlagen, und Marina konnte es ihr nicht verübeln. Trotzdem vermisste sie die einzige Frau, auf die sie sich jemals richtig verlassen konnte. Sie zog eine geblümte Schachtel aus dem Regal und öffnete sie. Darin waren Dutzende Briefe von Katherine, die Marina im Laufe der Jahre bekommen hatte und ausnahmslos aufbewahrte. Sie legte die Postkarte hinein und
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