Der Zypressengarten
Als sie ihn ansprach, hatte er ihr ins Gesicht gesehen und strahlend gelächelt. Dass er kein bisschen Scheu vor ihr hatte, brachte sie zum Lachen. Diese Kühnheit bei einem solch kleinen Jungen hatte sie fasziniert, sodass sie sich mit ihm unterhielt. Er bezauberte sie mit seinem Ernst und seinem Wissen. Es war unübersehbar, dass seine Intelligenz der seiner Eltern weit überlegen war.
Von jenem Tag an hatte sie ihn persönlich gefördert, sich für seine Fortschritte in der Schule und seine Hobbys interessiert. Als sie von seiner Liebe zur Kunst erfuhr, sorgte sie dafür, dass er alles an Material bekam, was er brauchte, und half ihm sogar selbst mit dem spärlichen Wissen, das sie besaß, bis sie schließlich einen jungen Mann aus Buenos Aires einstellte, der ihn einen Sommer lang unterrichten sollte. Lorenzo und Maria Carmela waren stolz und dankbar, auch wenn Maria Carmela schreckliche Angst hatte, dass man ihr Rafa wegnehmen könnte. Nichts ängstigte sie mehr als der Gedanke, dieses Geschenk von einem Kind würde ihr nicht für immer gehören.
Sie ging nach draußen, um den Papagei Panchito zu füttern. Er hockte auf seiner Stange im Sonnenschein und putzte sich das grüne Gefieder. Maria Carmela hielt ihm eine Handvoll Nüsse hin, die er eine nach der anderen mit Schnabel und Kralle aufnahm. Beim Frühstück ließ er sich nicht gerne hetzen. Señora Luisa hatte Rafa ein Leben ermöglicht, von dem jemand seiner Herkunft nicht einmal träumen durfte. Heute hatte er eine gute Arbeit, verdiente viel, hatte ein nettes Leben … Warum war er drauf und dran, all das wegzuwerfen?
Clementine kam frühzeitig aus dem Büro. Sylvia hatte Mr Atwood überredet, seine Frau zum Abendessen auszuführen, und Clementine hatte im Incoming Tide reserviert und ihm einen Strauß Rosen besorgt, den er seiner Frau zusammen mit dem Geschenk überreichen konnte. Sie hätte ihm ja ihren Strauß gegeben, könnte sie sicher sein, dass es niemand bemerkte, aber Sylvia hatte die Blumen bereits in eine Vase gesteckt und auf Clementines Schreibtisch gestellt.
So blieb ihr nichts anderes übrig, als sie mitzunehmen. Sie klemmte sie sich unter den Arm, wo sie ihr die Jacke durchnässten, und verließ das Büro um fünf. Sie freute sich darauf, früh ins Bett zu gehen, fernzusehen und Joe und das Wiedersehen mit ihm am morgigen Abend zu vergessen. Wenigstens war sie nicht schwanger, wofür sie unendlich dankbar war. Joe mochte ein bisschen ungehobelt sein, aber er hatte ihre Betrunkenheit nicht ausgenutzt. Vielleicht war er ein Rohdiamant, ein Gentleman in einem Arbeiter-Overall. Sie lächelte bei dem Gedanken an ihre Mutter und was sie von ihm hielte. Ihre Mutter war wahnsinnig versnobt und sortierte alle Leute in vier Kategorien – Anständige, Handwerker, Gewöhnliche und Ausländer. Und natürlich waren nur die in der ersten Kategorie akzeptabel.
Zu Hause saßen ihr Vater und Marina in der Küche beim Tee. Ihr Vater hatte rote Wangen, nachdem er den größten Teil des Tages zum Angeln draußen gewesen war, und Marina strahlte vor Glück.
»Clementine«, sagte sie lächelnd, »komm, setz dich zu uns.«
»Wie war dein Tag?«, fragte ihr Vater.
»Öde.« Clementine nahm sich einen Becher vom Regalhaken und einen Teebeutel aus der Dose.
»Du verdienst Geld und sammelst Erfahrung, das ist sehr wichtig.«
»Ja, Dad, super, danke.«
»Wir haben unseren Künstler«, verkündete Marina.
»Hurra!«
Sie ignorierten Clementines Sarkasmus. »Ich denke, er wird dir gefallen. Er sieht sehr gut aus.«
»Kein Interesse. Das ist dein Projekt, und ich habe nichts mit ihm zu tun. Schließlich kann ich nicht malen, und Kunst geht mir am Hintern vorbei.« Sie goss Wasser in ihren Becher und gab einen Schuss Milch dazu.
»Isst du heute Abend mit uns?«
»Ich esse beim Fernsehen.«
»Es gibt Wolfsbarsch. Dein Vater hat heute Morgen einen geangelt.«
»Na gut, wenn genug da ist, nehme ich was.«
»Natürlich ist genug da«, sagte Grey voller Stolz. »Es ist ein Vierpfünder – mindestens.«
»Wow, gut gemacht, Dad.«
»Hast du Lust, am Wochenende mit mir rauszufahren?«
Clementine zog eine Grimasse. »Wieso?«
»Ich dachte bloß, du hast vielleicht Lust, mit mir zu kommen, mal gucken, wie seefest du noch bist.«
»Ich war nie seefest, Dad. Ich hasse Boote, weil mir in denen schlecht wird. Schon vergessen?«
»Das ist Jahre her.«
»Ich glaube nicht, dass sich Seekrankheit verwächst.«
»Einstellungen hingegen durchaus«, mischte Marina
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