Der Zypressengarten
Du hast gesagt, dass du es verstehst und mir helfen willst.«
»Weil ich dich liebe, mein Sohn.«
Prompt wallten Gefühle in ihm auf, und er stützte seinen Kopf in die Hand. »Ich liebe dich auch, Mamá .«
Eine Weile schwiegen sie beide. Er konnte sie am anderen Ende atmen hören. Dieses vertraute Geräusch hatte in seiner Kindheit stets Geborgenheit und bedingungslose Liebe bedeutet. Heute aber klang es angestrengt, alt und ängstlich. Schließlich sagte sie mit kippelnder Stimme: »Komm nach Hause, hijo . Vergiss diese alberne Idee.«
»Kann ich nicht.«
»Dann vergiss mich zumindestens nicht.«
»Ich rufe dich in ein paar Tagen wieder an, versprochen.«
»Hast du alles, was du brauchst?«
»Alles.«
»Sei vorsichtig.«
»Bin ich.«
»Und denk an sie.«
»Natürlich, Mamá . Ich will niemanden verletzen.«
Mich verletzt du, dachte sie, als sie den Hörer auflegte und sich die Augen mit einem sauberen weißen Pañuelo wischte. Maria Carmela Santoro hievte sich aus dem Sessel und wanderte den Flur hinunter zu Rafas Zimmer. Dieser Tage war es sehr ruhig im Haus. Ihr Ehemann war bei Jesus, und ihre vier älteren Kinder hatten das Nest vor langer Zeit verlassen. Rafa, ihr Jüngster, war ein Geschenk Gottes, als sie eigentlich zu alt war, um noch Kinder zu bekommen. Ihre anderen Kinder hatten einen dunklen Teint und dunkles Haar wie ihr Vater, aber Rafa war ein sehr blondes Kind gewesen. Mit seinem hellen Haar und dem natürlichen Charme war er etwas Besonderes.
Sie stand in der offenen Tür und blickte sich in dem Zimmer um, in dem so viele Erinnerungen wohnten. Liebevoll hielt sie alles hier sauber und ordentlich. Als die Kinder noch klein waren, hatten sie sich zu zweit ein Zimmer teilen müssen, denn das Farmhaus mitten in der Pampa war klein. Rafa als letztes Kind im Haus hatte ein Zimmer ganz für sich gehabt.
Jetzt wohnte er natürlich in Buenos Aires, wo er eine elegante Wohnung in einer Seitenstraße der Avenida del Libertador besaß. Doch er kam oft her, viel öfter als die anderen. Er war ein guter Sohn. Und seit sein Vater nicht mehr lebte, kümmerte er sich um seine Mutter. Solange sie ihn hatte, fühlte sie sich sicher. Er hatte ihr gesagt, dass sie zu ihm ziehen sollte, doch sie konnte den Lärm und den Schmutz in der Großstadt nicht leiden. Ihr ganzes Leben hatte sie auf der Farm verbracht, als Magd für Señora Luisa gearbeitet und später, nach deren Tod, für ihre Schwiegertochter Marcela. Über fünfzig Jahre hatte sie ihre Wurzeln in denselben fruchtbaren Boden geschlagen, in dem ihr lieber Mann nun unter einem schlichten Stein begraben lag. Jede Woche brachte sie ihm frische Blumen, um sein Andenken zu ehren.
Sie trat ans Fenster und öffnete die grünen Läden. Genüsslich inhalierte sie den eindringenden Herbstgeruch. Die Sonne war schon warm, und erste trockene Blätter lagen braun und zusammengerollt im Gras wie wehmütige Botschaften des Windes. Draußen säumten hohe Platanen die lange Zufahrt, die das Anwesen durchschnitt und zum Haupthaus führte, jenem großen Haus, in dem Marias Herrschaft die Wochenenden und Ferien mit nichts als Müßiggang und Luxus verbrachten. Fleckiges Licht fiel auf die staubige Straße, und ein Hund bellte laut, woraufhin ihn die Köchin Angelina in wütendem Spanisch beschimpfte.
Maria Carmela erinnerte sich, wie sein Vater dem kleinen Rafa das Reiten beibrachte. Das Bild entlockte ihr ein verträumtes Lächeln: von dem großen, schwarzhaarigen Lorenzo mit seiner Baskenmütze, den roten Schal lose um den Hals geschlungen, einen glitzernden Prägegürtel um die weiten Bombachas, die in ausgetretenen Lederstiefeln steckten. Der kleine blonde Junge hatte weiße Espadrilles getragen, sodass man seine braunen Fesseln unter den olivgrünen Bombachas sah, und ein rot besticktes Tuch um die Hüften. Er hatte ebenfalls eine Baskenmütze auf, saß an seinen Vater geschmiegt auf dem Pferd und lachte laut, als sie über die Steppe galoppierten. Wie auffallend hell und glatt die Haut ihres Sohnes neben der alten wettergegerbten ihres Mannes ausgesehen hatte. Und welche Freude er ihnen allen gebracht hatte.
Es war sein engelsgleicher Charme, der Señora Luisa auf Rafa aufmerksam machte. Sein Vater hatte ihn eines Morgens ihr Pony holen lassen, als Rafa erst sechs Jahre alt war. Voller Stolz, dass ihm diese wichtige Aufgabe übertragen wurde, hatte er das Tier vor das Haupthaus gebracht und hocherhobenen Hauptes im Schatten eines Eukalyptusbaumes gewartet.
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