Der Zypressengarten
als ich mit Dad zum Fischen draußen war, und irgendwie zog es mich hierher. Sobald ich fahren konnte, habe ich sie gesucht. Gucken wir sie uns von drinnen an.«
»Kann man da denn rein?«
»Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg, heißt es doch so schön. Komm mit.«
Sie lief um die Kirche herum. Auf der Rückseite führten einige Stufen hinunter zu einer kleinen Holztür. »Das hier muss mal der Hintereingang für Zwerge gewesen sein«, sagte sie kichernd. »Oder die Leute waren vor Jahrhunderten sehr klein.«
»Was glaubst du, wie alt sie ist?«
»Na ja, drinnen sind Gräber von Leuten, die im dreizehnten Jahrhundert gestorben sind.«
»Increíble!«, hauchte er.
Sie stieß gegen die Tür, die sich ächzend öffnete. Drinnen war es kühl und klamm. Sie ließen die Tür weit offen, damit Licht hereinfiel, und stiegen eine Wendeltreppe hinauf in den Hauptraum der Kirche. Er wäre dunkel, hätte der Wind nicht längst Löcher ins Dach gerissen. Zudem waren manche der Bretter vor den Fenstern verrottetet und halb vom Rahmen weggebrochen. Stumm standen sie da und blickten sich um.
Obwohl es deutlich kühler war als draußen, fühlte sich die Luft befremdlich warm an, als wäre sie hier weicher. Der Altar war mit dem üblichen weißen Tuch bedeckt, und obendrauf stand eine schimmelüberwachsene leere Vase. Die Kirchenbänke aus Eiche, die mit den Jahren schwarz geworden waren, standen in ordentlichen Reihen, und auf dem Steinboden lagen noch einige mit Kreuzstickerei verzierte Betkissen. Auf einem Tisch vorn an der Tür war ein Stapel grüner Gesangbücher, und gegenüber trennte ein dunkelroter Samtvorhang das Kirchenschiff von einem kleinen Anbau mit einem ausgetrockneten Taufbecken.
»Es kommt einem vor, als hätten sie eine Messe beendet, die Tür abgeschlossen und wären für immer weggegangen«, sagte Clementine.
Rafa setzte sich auf die Orgelbank und spielte ein paar Noten. Der disharmonische Klang hallte von den Wänden und schreckte ein Taubenpaar auf, das sich sein Nest auf einem der Dachbalken gebaut hatte.
»Gütiger, ist die Orgel verstimmt!«, rief Clementine und hielt sich die Ohren zu. Sie war im Chorraum, der aus zwei gegenüberliegenden Bänken vor dem Altar bestand. »Kannst du spielen?«, fragte sie.
»Nein. Hört man das nicht?«
»Ich dachte, die Orgel klingt so furchtbar, nicht du.«
Er stand auf. »Und was tust du hier, wenn du allein herkommst?«
»Nichts«, antwortete sie achselzuckend. »Ich gehe herum und lese die Grabinschriften. Die Namen sind wunderbar. Ich stehe über ihnen und frage mich, ob das unter meinen Füßen alles ist, was von ihnen übrig ist, oder ob ihr Geist in irgendeiner anderen Dimension ist, die unsere Sinne nicht erfassen. Ich würde gerne glauben, dass es einen Himmel gibt.«
Rafa schritt zu einer Grabplatte, die durch ihre Größe und die deutliche Gravur aus den anderen herausstach. »Archibald Henry Treelock«, las er.
»Ein klasse Name, Archibald.«
»Was denkst du, was Archibald jetzt macht?«
»Mein Verstand sagt mir, dass der gute alte Archibald nichts als Staub ist. Aber mein Herz sagt, dass er im Himmel einen Branle mit seiner Frau Gunilda tanzt.«
»Ich glaube, dass dein Herz recht hat. Wenigstens sagt mir meines dasselbe. Ich glaube nicht, dass mein Vater Staub und Erde ist. Ich glaube, dass sein alter Körper in der Pampa begraben ist, aber sein Geist ist woanders.« Er blickte sich in der Kirche um und senkte die Stimme. »Vielleicht ist er jetzt mit uns hier, in dem Haus, das Gott vergessen hat.«
»Ich hatte bisher noch nie einen Todesfall in der Familie. Meine Großeltern leben alle noch, leider. Die Eltern meiner Mutter sind extrem nervig. Ein Glück, dass sie weit weg wohnen und ich sie so gut wie nie sehe.«
»Wo wohnen sie denn?«
»In Schottland, bei meiner Mutter.«
Er guckte sie stirnrunzelnd an. »Entschuldigung, das verstehe ich nicht. Deine Mutter lebt doch hier, oder nicht?«
»Nein, Marina ist nicht meine Mutter. Gott bewahre! Nein, meine Mutter lebt mit ihrem zweiten Mann Martin, der übrigens ein Idiot ist, in Edinburgh. Marina ist meine Stiefmutter.«
»Ich dachte, sie ist …«
»Das denken die meisten, ich weiß auch nicht, wieso. Wir sehen uns nicht mal ähnlich.«
»Nein, tut ihr nicht.«
»Ich sehe wie meine Mutter aus, bedauerlicherweise, denn sie ist keine Schönheit. Tja, mir wurde beigebracht, dass Schönheit von innen kommt, also glaube ich das mal.«
Rafa stieg die Stufen zur Kanzel hinauf. »Hat Marina
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