Der Zypressengarten
klar, fahren wir«, verkündete Clementine und hielt die Autoschlüssel in die Höhe.
»Ich freue mich schon«, sagte Rafa. Er folgte ihr nach draußen.
Sie stand vor ihrem roten Mini, aufgeregt, weil sie nur zu zweit wären. »Bist du sicher, dass dir der Wagen nichts ausmacht?«, fragte sie und entriegelte mit der Fernbedienung.
»Das ist ein niedlicher kleiner Wagen. Warum sollte es mir etwas ausmachen?«
»Dad hat zu lange Beine dafür.«
»Dein Vater ist sehr groß. Das bin ich nicht.«
»Na, ein Glück, was?«
»In diesem Fall, ja.«
Clementine stieg ein. Hastig kramte sie leere Kaffeebecher, Schokoriegelpapier und Zeitschriften zusammen, die sich auf dem Beifahrersitz angesammelt hatten, und warf sie auf die Rückbank. Dann stellte sie den Sitz weiter nach hinten, damit Rafa mehr Beinfreiheit hatte. Er stieg ein, und plötzlich überkam Clementine ein Kribbeln, denn ihre Arme berührten sich fast über der Handbremse.
»Jetzt zum spaßigen Teil«, sagte sie, drehte den Zündschlüssel halb und drückte einen Knopf am Armaturenbrett. Langsam faltete sich das Verdeck zurück, bis sie im prallen Sonnenschein saßen. Der Wind wehte durch den Wagen und den Geruch von warmem Leder sowie die Reste von Clementines Verärgerung fort. Ohne ihre hinderliche Familie fühlte sie sich gleich sicherer. »Ist das nicht nett?«
»Ist es ohne Frage. Und, wohin zuerst?«
»Wir machen eine Magical Mystery Tour.«
»Klingt spannend.«
»Ist es. Marina kann mit dir zum Strand, Dad kann dir die Umgebung zeigen, und Jake darf gerne mit dir ins Wayfarer. Aber ich will da nicht hin. Ich möchte dir mein kleines geheimes Plätzchen zeigen.«
»Die anderen sagten, du magst Devon nicht.«
»Stimmt«, antwortete sie und fuhr die rosa Rhododendrenallee hinauf. »Ich mag ihr Devon nicht, aber ich habe mein eigenes kleines Devon, das ich sehr mag, und ich zeige es dir, wenn du versprichst, es niemandem zu verraten.«
»Versprochen.«
Sie sah ihn an, und er grinste. »Vielleicht willst du es sogar irgendwann malen.«
Sie fuhren über schmale Landstraßen, die von neongrünen Blättern und zartem Wiesenkerbel gesäumt waren. Alles roch nach frischem Wachstum, und in den Hecken wimmelte es von Blaumeisen und Goldfinken. Den Wind in ihren Haaren und angeregt vom Anblick und Duft des Meeres, unterhielten sie sich wie alte Freunde. Rafa erzählte von seiner Liebe zu Pferden und den Ausritten über die argentinische Pampa, vom Horizont, der im Abendlicht wie Bernstein leuchtete, und den Frühlingsmorgen, wenn das Land in Nebelschleier gehüllt war. Er erzählte ihr von den Präriehasen, die im hohen Gras spielten, und vom Duft der Gardenien, die ihn stets an sein Zuhause erinnerten. Und er erzählte ihr von seiner Mutter, die sich immerfort Sorgen um ihn machte, obwohl er über dreißig war, und von seinem verstorbenen Vater, um den er bis heute trauerte, sowie seinen viel älteren Geschwistern, die er kaum kannte.
Bis sie ihr Ziel erreichten, fühlte Clementine sich wie ein anderer Mensch. Ihre Abwehrhaltung allem gegenüber war von seiner Begeisterung fortgewischt worden, und an ihrer Stelle regte sich eine neue Zuversicht. Rafa hatte es mit seinen Geschichten über das Leben in Argentinien geschafft, dass sie nicht mehr einzig um sich selbst kreiste. Sie hörte ihm aufmerksam und voller Mitgefühl zu – und ein bisschen verwundert, dass er ausgerechnet ihr all das anvertraute.
Clementine parkte den Wagen am Gatter oben an einem Feld und stieg aus. Unter ihnen, an den Klippen hinten auf dem Feld, stand eine hübsche kleine Kirche mit einem runden Turm und einem grauen Schieferdach.
»Da wären wir«, sagte Clementine. »Es sieht nicht nach viel aus …«
»Oh doch, das tut es. Das Haus, das Gott vergessen hat.«
Sie lächelte erfreut, weil es ihm gefiel. »Ja, genau das ist es. Das Haus, das Gott vergessen hat, und sieht es nicht traurig und verloren aus?«
Sie kletterten über das Gatter und gingen den Hügel hinab. Das Gras war lang und dicht, getupft von leuchtend gelben Butterblumen, die in der Sonne glänzten. Bienen summten um die Blüten herum, und ein Paar Schmetterlinge flatterten tanzend um Clementines und Rafas Köpfe. Als sie näher kamen, konnte Rafa sehen, dass die Fenster der Kirche vernagelt waren. Das Gebäude wirkte wahrlich traurig und verlassen.
»Hier kommt keiner hin. Alle haben die Kirche vergessen. Von der Straße aus kann man sie nicht mal sehen. Ich habe sie vor Jahren vom Wasser aus entdeckt,
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