Der Zypressengarten
Clementine.
»Und ich als Künstler.«
»Nein, wirst du nicht.«
»Meinst du?«
»Keiner feuert dich, solange du die alten Damen nicht vom rechten Weg abbringst.«
»Alte Damen?«
»Deine Schülerinnen.«
»Ah, por supuesto, meine Schülerinnen.« Er rieb sich das Kinn. »Wie alt sind sie?«
»Sehr alt.« Clementine lachte. »Aber anscheinend sehr unterhaltsam. Sie sind äußerst exzentrisch. Letztes Jahr waren sie hier, und Marina redet immer noch davon.«
»Warst du letztes Jahr nicht hier?«
»Natürlich nicht!«
Er schüttelte den Kopf. »Nein, dumm von mir. Du warst irgendwo, egal wo, nur nicht hier.«
12
Clementine und Rafa stürmten wie ein Paar nasse Hunde ins Hotel. Rose und Jennifer beobachteten, wie die beiden nach oben liefen. Ihr Lachen hallte durchs Treppenhaus.
Rose sah Jennifer fragend an. »Was glaubst du, haben sie gemacht?«
»Was es auch ist, ich wünschte, ich hätte es auch getan«, antwortete Jennifer wehmütig.
»Denkst du, sie waren im Meer schwimmen?«
»Na ja, falls sie nicht in eine Riesenpfütze geplumpst sind, würde ich sagen, das ist ziemlich gut möglich.«
»Hach, wenn man sich vorstellt, dass er den ganzen Sommer hier ist!«
»Da werden viele Herzen gebrochen.«
»Mir egal«, seufzte Rose. »Meins darf er mir jederzeit brechen.«
Das Mittagessen wurde am langen Fenstertisch im Speisesaal eingenommen. Marina setzte Rafa zwischen sich und Clementine. Ihr fiel das nasse Haar der beiden auf, und dass sie sich umgezogen hatten. Sie waren aufgekratzt, tuschelten miteinander wie vertraute Freunde. Vor allem aber leuchtete Clementines Gesicht wie ein chinesischer Lampion. Ihre sonst so finstere Miene strahlte von innen. Marina staunte über die plötzliche Veränderung. Ihre Stieftochter lächelte ihr sogar zu, und Marina schämte sich beinahe für so viel Dankbarkeit.
»Was habt ihr zwei angestellt?«, fragte Grey.
»Wir sind im Meer geschwommen«, antwortete Clementine, als würde sie es jeden Sonntagmorgen tun.
Rafa grinste. »Die Schuld liegt ganz bei mir.«
»Wie galant von dir«, murmelte Jake.
»Ich konnte der Verlockung der See nicht widerstehen.«
»Nein, es war meine Idee«, gestand Clementine, und ihr Strahlen sagte überdeutlich, dass sie es nicht bereute.
»War das nicht sehr kalt?«, fragte Marina.
»Eisig«, sagte Rafa. »Und es hat uns sehr hungrig gemacht.« Er blickte zur Platte mit sautiertem Thunfisch, Gurken-Nori-Rollen in geröstetem Sesam und Honig- und Chili-Dressing, und man sah, wie ihm das Wasser im Mund zusammenlief. »Das sieht köstlich aus.«
»Wir haben einen hervorragenden französischen Koch«, erklärte Marina.
»Frischer Thunfisch«, ergänzte Grey, der sein Besteck aufnahm. »Ich würde zwar gerne behaupten, dass ich den selbst gefangen habe, aber ich saß heute Morgen im Büro fest.«
»Was hast du gemacht?«, fragte Marina.
»Jake und ich haben unser erstes literarisches Dinner geplant.«
»Wir wollen William Shawcross bitten, einen Vortrag zu halten«, ergänzte Jake.
»Ich bin ihm ein oder zwei Mal in London begegnet und habe ihn bei der Royal Geographic Society sprechen gehört«, erzählte Grey. »Ich denke, wir könnten ihn überreden, zu uns zu kommen. Immerhin hat seine Frau ein Hotel am Rand von Dartmoor.«
»Das ist eine großartige Idee«, sagte Marina begeistert. Sie saß im sonnendurchfluteten Speisesaal mit ihrem neuen Künstler am Tisch und hätte vielleicht bald William Shawcross als Vortragenden zu Gast: Wie wollte sie da keine neue Hoffnung schöpfen? Außer ihrem waren nur wenige Tische mit Gästen besetzt, aber hatte sich erst herumgesprochen, dass ein Künstler über den Sommer bei ihnen residierte, würden sich bald mehr Gäste einstellen und wieder richtig viel los sein.
»Schatz, wo ist Harvey? Ich bräuchte ihn heute Nachmittag für ein, zwei Dinge«, sagte Grey.
»Er besucht seine Mutter«, antwortete Marina.
»Was für ein aufopfernder Sohn.«
»Seine Mutter muss steinalt sein«, sagte Jake. »Bei ihm selbst tickt ja schon die Uhr.«
»Das ist nicht nett, Jake«, schalt Marina ihn. »Geistig ist er noch jung.«
»Die Lebensdauer ist einzig eine Frage des Denkens«, sagte Rafa und tippte sich an die Schläfe. »Ich glaube, dass die meisten Krankheiten vom Kopf kommen.«
»Schwachsinn«, konterte Jake. »Willst du behaupten, dass Leute, die an Krebs sterben, schlicht verkehrt gedacht haben?«
Marina war es peinlich, dass Jake so aggressiv gegenüber Rafa wurde, doch den schien es nicht
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