Der Zypressengarten
sie hoffen durfte. War es gesund, nach den Sternen zu greifen, wenn man nie einen berühren würde?
»Hi, Joe«, sagte sie und überspielte ihr schlechtes Gewissen mit einem gekünstelten Lächeln.
»Wo hast du gesteckt? Hast du nicht mitgekriegt, dass ich versucht habe, dich zu erreichen?«
»Tut mir leid. Im Hotel war so viel los. Der neue Künstler ist da, und Submarine brauchte meine Hilfe. Ich hatte die ganze Zeit zu tun.«
Joe wirkte nicht überzeugt. »Du hättest wenigstens mal anrufen können.«
»Ich weiß. Ich dachte, du verstehst das.« Sie kramte in ihrer Tasche nach dem Lipgloss. »Offenbar habe ich dich überschätzt. Mein Fehler.«
Plötzlich sah er verloren aus und kratzte sich am Kopf. Wie hatte sie es geschafft, ihm mit den paar Worten Schuldgefühle einzureden? »Sehe ich dich heute Abend?«
»Leider nicht. Wir fahren mit Dads Boot raus. Ich habe keinen Schimmer, wann wir zurück sind.«
»Kommst du zu mir und bleibst über Nacht?«
»Nein, Joe. Ich habe dir doch gesagt, dass ich im Hotel gebraucht werde.«
Er guckte sie ratlos an. »Wann denn dann? Wir haben angeblich eine Beziehung.«
»Na gut, morgen Abend.« Clementine bereute es in dem Moment, in dem sie es ausgesprochen hatte.
Sylvia saß an ihrem Schreibtisch und hörte aufmerksam mit. Sobald Joe draußen war, legte sie ihre Nagelfeile weg und drehte sich zu Clementine. »Joe ist wirklich ein netter Kerl. Ich kapier nicht, was in dich gefahren ist!«
Clementine stützte die Ellbogen auf den Schreibtisch und lehnte ihr Kinn in die Hände. »Verglichen mit Rafa ist er so gewöhnlich.«
»Jetzt mach mal die Augen auf! Rafa ist genauso gewöhnlich. Männer sind Männer, egal von welcher Seite du guckst.«
»Nein, Rafa ist anders.«
»Das dachte ich auch bei Richard und Jeremy und Benjamin … und zig anderen. Am Ende wirst du immer enttäuscht, weil dein Supermann doch bloß ein Kerl in Unterhosen ist. Genauso bedürftig, genauso fordernd, genauso egoistisch wie jeder andere Mann auf der Welt.«
»Du bist eine solche Zynikerin.«
»Ich lebe auch schon länger als du, Süße.«
»Trotzdem halte ich an meinem Traum fest.«
»Der ist eine Seifenblase, Dummchen.«
Clementine seufzte. »Was soll ich denn machen? Ich liebe Joe nicht.«
»Magst du ihn?«
»Nach ein paar Wodkas im Dizzy Mariner ist er ganz niedlich.«
»Der Spatz in der Hand ist besser als die Taube auf dem Dach.«
Clementine rümpfte die Nase. »Was hat das mit Joe zu tun?«
»Du willst doch nicht am Ende alleine sein. Ich habe Freddie nur deshalb zurückgenommen, weil sein Gejammer langweilig wurde.«
»Aber das ist ein trauriger Kompromiss.«
»Musst du gerade sagen! Wenn du Joe nicht liebst, mach Schluss.« Sylvia zuckte mit den Schultern. »Du bist diejenige, die an ihm festhält. Frag dich mal, wieso.«
Das Telefon klingelte, und Sylvia nahm ab. Clementine ging mit ihrer Ablage zu den Aktenschränken. Während sie die Briefe in die richtigen Fächer sortierte, dachte sie über Sylvias Worte nach. Sie hatte natürlich recht. Wenn sie Joe nicht liebte, warum war sie noch mit ihm zusammen? War sie so unsicher, dass sie lieber mit einem viel zu durchschnittlichen Mann zusammen war als allein? Und zugleich strebte sie in ihren Träumen nach Höherem. Ihre Gedanken bewegten sich auf einer anderen Umlaufbahn, und ihr Herz sehnte sich nach der heißesten, größten Liebe.
Nachdem sie fertig war, stellte sie fest, dass sie zum ersten Mal sämtliche Briefe korrekt abgelegt hatte. Sie konnte nicht sagen, was sie dazu anspornte, aber sie beschloss, alle Akten durchzusortieren, eine nach der anderen, bis alles an seinem Platz war. Es war viel Arbeit, denn den ganzen letzten Monat hatte sie Schreiben einfach wahllos in irgendwelche Fächer gestopft, ohne darüber nachzudenken, dass man sie irgendwann wiederfinden müsste.
Mr Atwood kehrte von einer Besichtigung zurück und fand den Fußboden voller Papier vor. Ihm stand der Mund offen vor Schreck. »Was in aller Welt ist hier los?«
»Ja, schon gut«, antwortete Clementine gelassen. »Ich bin selbst ein bisschen geschockt. Fragen Sie Sylvia, denn ich weiß auch nicht, was in mich gefahren ist. Aber ich gestehe, dass ich wochenlang Sachen in die falschen Ordner gepackt habe.«
Mr Atwood war nicht sicher, ob er wütend oder froh sein sollte. Er räusperte sich. »Na, dann muss ich wohl dankbar sein, dass Sie jetzt aufräumen, statt ein komplettes Chaos für Polly zurückzulassen.« Er stakste vorsichtig zwischen
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