Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
den Koran spricht, ist eine gefährliche Form von Intoleranz, maskiert als Respekt vor den Meinungen anderer.
1997
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Revision im Namen des Common Sense:
Der Prozeß Sofri
muß neu aufgerollt werden*
Zahlreich sind die Argumente, die von den Holocaust-Leugnern benutzt werden, um jede einschlägige Zeugenaussage zu entkräften. Eine meiner Studentinnen, Valenti-na Pisanty, hat kürzlich ihre Doktorarbeit in Semiotik über die Logik dieser Verleugner gemacht. Ich hatte sie gebeten, nicht ihre eigenen Ansichten über die Realität des Holocaust darzulegen, auch nicht zu entscheiden, ob die von den einen oder anderen präsentierten Dokumente »authen-tisch« sind (das ist Aufgabe der Historiker), sondern ledig-
* Dieser Text war ursprünglich nicht als »Bustina di Minerva« im Espresso erschienen, sondern in der Zeitschrift Micromega 3, 1997. Ins Französische übersetzt und leicht erweitert ist er anläßlich der Entscheidung über den Revi-sionsantrag im Prozeß gegen Sofri et al. am 18. März 1998 auch in Le Monde erschienen; die vorliegende Übersetzung berücksichtigt beide Fassungen. –
Der zugrundeliegende Fall: Adriano Sofri und zwei weitere ehemalige Anführer der 1968er Bewegung »Lotta Continua«, Ovidio Bompressi und Giorgio Pietrostefani, waren im Juli 1988 beschuldigt worden, die Ermordung des Mailänder Polizeikommissars Luigi Calabresi im Mai 1972 organisiert zu haben. Die Anklage stützte sich im wesentlichen auf die Aussage eines Kronzeugen. Im Januar 1997, nach insgesamt sieben Prozessen, die sich hauptsächlich um die Glaubwürdigkeit dieses Kronzeugen drehten, wurden die drei Beschuldigten zu 22 Jahren Gefängnis verurteilt. Dieses Urteil löste in Italien, Frankreich und großen Teilen Europas heftige Proteste und eine Welle von Solidaritätsbekundungen mit den Verurteilten aus, die nach wie vor ihre Unschuld beteuern. Der Fall ist auch im Jahr 2000 noch aktuell: Die Revision des Prozesses wurde am selben Tag, an dem Ecos Artikel in Le Monde erschien, abgelehnt, aber im August 1999 dann doch zugelassen – allerdings nur, um das Urteil im Revisionsprozeß des Berufungsgerichts Venedig am 23. Januar 2000 zu bestätigen und die drei Angeklagten erneut zu 22 Jahren Haft zu verurteilen. Genaueres und letzter Stand des Falles auf der Website www.sofri.org (A. d. Ü.).
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lich herauszuarbeiten, mit welchen logischen Verfahrens-weisen die Holocaust-Leugner bestimmte Dokumente oder Zeugenaussagen untersuchen.
Ich zitiere nur zwei typische Argumente. Die Holocaust-Leugner versuchen zu beweisen, daß das Tagebuch der Anne Frank eine Fälschung sei (ausgehend von der evi-denten Tatsache, daß der Text mehrfach redigiert worden ist). Einer ihrer Hauptpunkte ist folgender: Die in dem Hinterhaus an der Prinsengracht Versteckten wären gezwungen gewesen, ihre Abfälle zu verbrennen, der
schwarze Rauch aus dem Schornstein hätte den Nachbarn auffallen müssen, und sie hätten ihn der Gestapo gemeldet.
Es sei unwahrscheinlich, daß niemand den Rauch bemerkt habe. Das Argument ist in sich untadelig, es setzt nur voraus, daß die im Tagebuch berichteten Dinge nicht wahr sind; tatsächlich läßt es ein entscheidendes Element außer acht, nämlich daß am Ende jemand den Rauch bemerkt und die Gestapo benachrichtigt haben kann, denn wie man weiß, sind ja die Versteckten, wenn auch erst nach einer Weile, entdeckt worden.
Zweites Argument: Ein Überlebender der KZs berichtet, in Treblinka habe es einen 35-40 Meter hohen Berg von Kleidern gegeben. Die Leugner argumentieren, ein solcher Berg müßte so hoch wie ein fünfzehnstöckiges Gebäude gewesen sein, zu einer solchen Höhe hätten die Kleider nicht ohne Hilfe eines Krans aufgetürmt werden können, und der Berg hätte den unwahrscheinlichen Durchmesser von ca. 140 Metern mit einer Grundfläche von 4805 Qua-dratmetern haben müssen. Für einen solchen Berg habe es im Lager keinen Platz gegeben. Schlußfolgerung: Der Zeuge lügt.
Das Argument ist mathematisch einwandfrei, aber rhetorisch schwach, denn es läßt außer acht, daß jeder Mensch
– zumal wenn er gerade eine schreckliche Erfahrung hinter 34
sich hat, und erst recht, wenn er sie sich nach einiger Zeit in Erinnerung ruft – zu rhetorischen Übertreibungen neigt.
Es ist, wie wenn uns jemand ein schreckliches Erlebnis er-zählt und dabei sagt, ihm seien die Haare zu Berge gestanden, und wir ihm dann anhand physikalischer Gesetzmä-
ßigkeiten vorhielten, daß Haare sich nicht in
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