Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
einen Sinn, gegen Sex mit Kindern in Italien zu demonstrieren, wo mir scheint, daß die öffentliche Gewalt das Verbrechen im allgemeinen verurteilt und bestraft und wo man (abgesehen von unkontrollierbarem Geschwätz) der politischen Klasse kaum vorwerfen kann, daß sie Kinderpornographie begünstigt?
Man wird sagen, es sei eine Demonstration der Solidarität mit den Eltern der Opfer gewesen, als welche sie auch empfunden wurde, und sicherlich gab sie sehr ehrenwerten Gefühlen Ausdruck. Aber wenn dem so wäre, gäbe es
dann nicht noch viele andere Fälle, in denen wir zur Mobi-lisierung aufrufen müßten – gegen Diebstahl, gegen Aus-beutung, gegen die Droge, gegen zahllose Verhaltensweisen, die alle verurteilen?
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Das Symptom ist interessant, und ich neige zu folgender Interpretation. Die großen Utopien sind zusammengebro-chen (man demonstriert nicht mehr für eine künftige Revolution oder gegen ungerechte Kriege), aber der soziale Körper hat das Bedürfnis, sich in bestimmten Schlachten einig zu fühlen, Brüderlichkeiten zu entdecken, sich als aktiv Handelnder im gemeinschaftlichen Leben zu emp-finden. Jedesmal wenn ein Thema aufkommt, das die allgemeine Sensibilität berührt (und der Abscheu vor sexuel-lem Mißbrauch von Kindern ist sicher ein solches), er-greift der soziale Körper die Gelegenheit, sich zu Wort zu melden, und jeder fühlt sich mit den anderen solidarisch –
ja, im Unterschied zu den politischen Demonstrationen von einst fühlen sich alle jenseits der Ideologien und Religionen einig über ein moralisches Thema, über das man nicht diskutiert.
So bezeugen diese öffentlichen Paraden einerseits das tiefe Verlangen vieler, eine Einheit wiederzufinden, besonders in einem Moment, in dem das politische Leben mehr als gewöhnlich vergiftet erscheint, und diese Demonstrationen besagen: »Hört auf, euch über Fragen zu zerfleischen, die letztlich nur Kleinigkeiten sind, und einigt euch über die großen Themen!« Andererseits demonstrieren sie das kollektive Bedürfnis, da, wo es heute so schwierig erscheint, sich auf der einen oder anderen Seite einzureihen, das Wort zu ergreifen und die Stimme der Bürger hören zu lassen, nicht über Fragen der Klasse, des Berufsstands, der Gruppe oder der Konfession, sondern über solche, in denen sich der ganze soziale Körper einig sein sollte.
In diesem Sinne sind solche Demonstrationen, die
scheinbar nur von Gefühlsreaktionen diktiert werden, wobei die Gefühle derart verallgemeinert sind, daß sie scheinbar wirkungslos bleiben, als Symptome nicht zu un-104
terschätzen, denn sie sagen uns etwas über das Bedürfnis der Menschen, sich in der Lösung gemeinsamer Probleme zusammenzufinden. Eine Botschaft, die sich die politische Klasse aufmerksam anhören sollte.
1996
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Grundzüge einer Stadtpsychologie:
Dresden
Ich komme gerade aus Dresden zurück. Dresden ist eine Stadt, die alle Gründe hätte, sich zu beklagen. Glänzende Hauptstadt Sachsens, von Herder als »Florenz des Nordens« bezeichnet, in einer romantischen Landschaft erster Klasse gelegen, wurde sie drei Monate vor der Kapitula-tion Hitlerdeutschlands dem gnadenlosesten konventionellen Bombardement des ganzen Weltkriegs unterzogen.
Ausradiert, und das ohne zwingende Gründe; man wußte bereits, daß die Russen bald da sein würden, und das
»Dritte Reich« lag schon am Boden. Das geben inzwischen auch die Anglo-Amerikaner zu, die nicht aufhören, Gewissensbisse und Solidarität zu bekunden.
Aber die Stadt hat, ohne zu vergessen, ihre Trauer ohne Gejammer, ohne Opfergetue und, man möchte fast sagen: ohne Groll getragen. Die Dresdner gehen davon aus, daß man die Geschichte kennt, und zeigen dem Besucher stolz die wieder aufgebauten Paläste, die Türme, die Kirchen, die unglaubliche Pinakothek, sie sagen ihm, wie weit im Jahre 2006, zur Achthundertjahrfeier der Stadt, alles wieder hergerichtet sein wird; sogar die scheußlichen Bauten, die nach dem Krieg schnell hochgezogen worden sind, werden bis dahin ersetzt sein, und die Barockfassaden, die Bellotto so genau auf seinen Bildern festgehalten hat, werden restauriert sein (Bellotto hatte kein so feines Ge-spür für die Ungreifbarkeit der Atmosphäre wie sein Onkel Canaletto, aber er war von einem glasklaren Realis-mus, der es erlaubt hat, auch die Altstadt von Warschau wieder aufzubauen).
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Die Dresdner fragen einen gar nicht, ob einem die Stadt gefällt. Sie sagen es einem. Das bringt mich auf den Gedanken, daß man
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