Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
jener hypermedialen Scheiben, die uns das Äquivalent eines ganzen Konversationslexikons geben können, mit Farben, Tönen und der Möglichkeit zu blitz-schnellen Querverweisen und Verbindungen zwischen den einzelnen Themen. Da ich auf diesem Gebiet gerade ein paar Erfahrungen sammle und die Sache kenne, folgte ich der Sendung nur zerstreut. Bis ich auf einmal meinen Namen nennen hörte: Es wurde behauptet, ich verträte die Meinung, diese Scheiben würden eines Tages definitiv die Bücher ersetzen.
Niemand kann verlangen, wenn er nicht paranoisch ist, daß die anderen alles lesen, was er schreibt, aber er kann zumindest hoffen, daß sie ihn nicht das Gegenteil sagen lassen, besonders wenn sie ihn – ungefragt – als Zeugen für etwas anführen. Tatsache ist, daß ich bei jeder Gelegenheit sage und wiederhole, daß die CD-ROM nicht das Buch ersetzen können wird.
Es gibt zwei Arten von Büchern: die zum Nachschlagen und die zum Lesen. Die ersten (der Prototyp ist das Tele-fonbuch, aber sie gehen bis zum Wörterbuch und zum 110
Konversationslexikon) besetzen viel Platz im Bücherregal, sind schwierig zu benutzen und kostspielig. Diese können eines Tages durch multimediale Silberscheiben ersetzt werden. Dadurch wird Platz frei, zu Hause wie in den öffentlichen Bibliotheken, für die Bücher zum Lesen (die von der Göttlichen Komödie bis zum letzten Kriminalro-man gehen).
Die Bücher zum Lesen sind durch keinerlei elektronisches Speichermedium ersetzbar. Sie lassen sich überall in die Hand nehmen, auch im Bett, auch in einem Boot, auch dort, wo es keine Steckdosen gibt, auch dann, wenn jede Batterie leer ist, man kann in ihnen etwas unterstreichen, eine Seite einknicken, ein Lesezeichen hineinlegen, man kann sie auf den Boden fallen- oder aufgeschlagen auf die Brust oder auf die Knie sinken lassen, wenn einen der Schlaf über-kommt, sie passen in die Jackentasche, sie können angesto-
ßen werden, sie nehmen ein individuelles Aussehen an, je nach der Intensität und Regelmäßigkeit unserer Lektüre, sie erinnern uns daran (wenn sie zu frisch und unberührt aussehen), daß wir sie noch nicht gelesen haben, sie lassen sich in der von uns gewünschten Kopfhaltung lesen, ohne uns die starre und angespannte Haltung vor einem Computerbildschirm aufzuzwingen, der in jeder Hinsicht bequem und benutzerfreundlich sein mag, nur nicht für die Halswirbel-säule. Versuchen Sie mal, die ganze Göttliche Komödie an einem Bildschirm zu lesen, auch bloß eine Stunde pro Tag, und dann sagen Sie mir, wie es war.
Das Buch zum Lesen gehört zu jenen Wundern einer
vollendeten Technologie, zu denen auch das Rad, das Messer, der Löffel, der Hammer, der Topf und das Fahrrad ge-hören. Das Messer ist schon sehr früh erfunden worden, das Fahrrad erst ziemlich spät. Aber so sehr sich die Designer auch bemühen, irgendein Detail zu verändern, im Kern bleibt das Messer immer dasselbe. Es gibt Maschinen, die 111
den Hammer ersetzen, aber für bestimmte Dinge wird man immer etwas brauchen, was dem ersten jemals auf Erden erschienenen Hammer gleicht. Man kann ein überaus raffiniertes Gangschaltungssystem erfinden, aber das Fahrrad bleibt, was es ist: zwei Räder, ein Sattel, Lenker, Pedale.
Sonst heißt es Moped und ist eine andere Sache.
Jahrhundertelang hat die Menschheit zum Lesen und
Schreiben erst Stein, dann Tontafeln, dann Papyrusrollen benutzt, aber es war eine mühsame Arbeit. Als sie entdeckte, daß man Bögen zusammenbinden kann, auch
wenn diese noch handbeschrieben waren, stieß sie einen erleichterten Seufzer aus. Und sie wird niemals wieder auf diese wunderbare Erfindung verzichten.
Das Format des Buches wird durch unsere Anatomie bestimmt. Es kann sehr große Bücher geben, aber meistens haben sie dokumentarische oder dekorative Funktion. Das Standardbuch darf nicht kleiner als eine Zigarettenschachtel und nicht größer als eine Nummer des Espresso sein.
Seine Größe ist abhängig von den Dimensionen unserer Hand, und diese haben sich – zumindest bisher – trotz Bill Gates nicht geändert.
Gewiß verspricht uns die Technik Maschinen, mit denen wir am Computer die Bibliotheken der ganzen Welt
durchsuchen können, um die uns interessierenden Texte zu nehmen, sie in der von uns gewünschten Schrift auszu-drucken, je nach dem Grad unserer Altersweitsichtigkeit und unseren ästhetischen Vorlieben, wobei schon der Drucker uns die Bögen sortiert und zu Broschüren bindet, so daß sich jeder seine persönlich
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