Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
die Städte normalerweise in zwei Kategorien einteilen kann: in die selbstsicheren und die anderen. Ich werde hier nur einige der selbstsicheren beim Namen nennen, möchte jedoch betonen, daß unter den anderen auch Hauptstädte sind.
In den selbstsicheren Städten kommt es den Leuten gar nicht in den Sinn, den Besucher zu fragen, wie er ihre Stadt findet. Einige verkaufen schamlos ihren Mythos (»Paris, la ville lumière« – »Quanto sei bella Roma« –
»New York, New York«), aber sie verlangen keine Kon-sensbekundungen. Sie setzen stillschweigend voraus, daß man überwältigt ist, und wenn nicht, hat man eben Pech gehabt. Andere, zum Beispiel London, Mailand oder Amsterdam, legen einem zwar den Prospekt oder den Führer mit den Sehenswürdigkeiten ins Hotelzimmer, reden aber nicht viel von sich und sind jedenfalls nicht an den Meinungen ihrer Besucher interessiert. Eine Kategorie für sich sind die Bewohner von Buenos Aires: Spät in der Nacht befragen sie sich und einander nach der argentinischen Identität, aber das ist ein nationales Spiel; daß »Buenos Aires querido« zum Verlieben ist, haben sie nie in Zweifel gezogen.
In Italien bezeichnet sich eine Stadt, wenn es ihr an Selbstvertrauen gebricht, bei öffentlichen Gelegenheiten als »nobilissima città«, also eine Stadt von ältestem –
sprich antikem – Adel. Es liegt auf der Hand, daß alle italienischen Städte, so wenige Jahrhunderte sie auch erst alt sein mögen (außer den erst vor ein paar Jahrzehnten gebauten), antiken Ursprungs sind, aber die komplexbeladenen haben das Bedürfnis, es ausdrücklich zu sagen. Im allgemeinen jedoch – und dies gilt überall in der Welt –
erkennt man mangelndes Selbstvertrauen daran, daß einem 107
sofort bei der Ankunft die Frage gestellt wird: »Was denken Sie über unsere Stadt?«
Mir ist es passiert, daß ich bei der Ankunft in sehr kom-plexbeladenen Städten auf dem Flugplatz von Journalisten umringt wurde, und die erste Frage war: »Kommen Sie zum erstenmal her? Was denken Sie über unsere Stadt?«
Wenn ich dann zu bedenken gab, daß ich noch gar nichts über sie denken könne, weil ich sie ja noch gar nicht gesehen hatte, insistierten sie: »Ja, aber was haben Sie zu finden erwartet, welches Bild hatten sie von ihr?« Sie wissen genau, daß man, wenn man kein Provokateur ist, eine höfliche Antwort geben wird. Am besten, man sagt, man habe schon viel über diese faszinierende und (wenn man ehrlich ist) kontrastreiche Stadt gehört. Dann geben sie erstmal Ruhe, aber solange man da ist, fragen sie immer wieder danach.
In manchen Städten widersprechen sie der höflichen Antwort. Sie wetteifern miteinander, dem Besucher zu sagen, daß die Gegensätze gewaltig, die Probleme dramatisch und ungelöst seien. Man hüte sich, auf die Provoka-tion einzugehen und zu antworten, das sei wahr. Sie werden beleidigt sein. Manchmal wird einem die schick-salhafte Frage auch in Städten gestellt, die für ihre Effi-zienz und ihre Schönheit berühmt sind. Dann entdeckt man, daß die Stadt unter ihrer Opulenz einen Mangel an Identitätsbewußtsein verbirgt.
Es gibt auch Städte, die ihr Selbstvertrauen wiederge-winnen. Neapel war bekannt für seine Mischung aus lei-dendem Stolz und triumphierender Selbstbeschimpfung.
Einer meiner Freunde sagte kürzlich zu dem Taxifahrer, der ihn zum Flughafen bringen sollte, sie würden vielleicht wegen des Verkehrs zu spät ankommen. Der Taxifahrer antwortete stolz (ohne zu leiden), der Verkehr funktioniere jetzt sehr gut. Kommentar meines Freundes: Zum 108
ersten Mal in seinem Leben (und in der ganzen Welt) sei er einem Taxifahrer begegnet, der gut von der Stadtver-waltung sprach.
In anderen Fällen beginnt eine Stadt, die früher sehr selbstsicher war, sich langsam unwohl zu fühlen. Man achte darauf, ob man gefragt wird, was man über sie denke. Es empfiehlt sich, eine begeisterte Antwort zu geben, aber man schaue sich um und suche nach Gründen für ein Unbehagen.
1996
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Zerstreut herumzappend bin ich vor ein paar Tagen auf einen Kanal gestoßen, in dem eine Art lange Vorschau auf eine demnächst kommende Sendung zu sehen war. Ich
glaube, es war in Rete Quattro oder Cinque, aber ich bin mir nicht sicher (was wieder einmal bestätigt, wie ideologisch wehrlos der Fernsehzuschauer im Vergleich zum Zeitungsleser ist, der immer genau weiß, wer da zu ihm spricht). Es wurden die Wunder der CD-ROM angeprie-sen, das heißt
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