Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
und 100
den Atem verpestet – wer könnte sich einen Herrn im Smoking bei einer Premiere in der Scala vorstellen, der einen Priem kaut? Man tut es einfach nicht, und damit basta.
Die Zigarre dagegen hat keine proletarischen Konnotatio-nen (es sei denn, es handelt sich um unseren knorrigen alten toskanischen Stinkstumpen). Die Zigarre ist teuer, sie erfordert Zeit und Muße, sie verbindet sich in der populären Ikonographie mit dem großen Magnaten, dem Mann der Macht, man schenkt sie zur Geburt eines Sohnes. Man schnorrt sich keine Zigarre, wie man sich eine Zigarette schnorrt; wenn einen jemand um eine Zigarette bittet, gibt man sie ihm ohne großes Getue; es kann sogar vorkommen, daß man ihm gleich die ganze Schachtel läßt, weil man noch eine andere hat, aber dadurch erscheint man weder besonders großzügig noch besonders wohlhabend. Zieht dagegen jemand sein Etui hervor und schenkt uns vier teure Zigarren, dann kommt es uns vor, als hätten wir’s mit einem Potentaten aus anderen Zeiten zu tun, der sich einen Smaragdring vom Finger streift und ihn uns überreicht.
Deswegen raucht man in besseren Kreisen Zigarren. Sie sind das Mittel zur Ruinierung der Gesundheit, durch welches sich hochgestellte Selbstmorde auszeichnen, sie bringen einem den Tod nicht billig wie die Zigaretten der Armen. Infolgedessen werden sie von der Gesellschaft toleriert und im Innersten gebilligt.
Ach ja, ich vergaß noch eins zu erwähnen, etwas, das in Amerika so normal ist, daß es niemandem auffällt: Im Zentrum des Kampfes gegen das Rauchen, in den ebenso puritanischen wie hygienebewußten Vereinigten Staaten, dem Land, das als erstes die unheilschwangere Warnung des Gesundheitsministers auf die Zigarettenschachteln drucken ließ – in diesem Land werden die Zigaretten in den Apotheken verkauft.
1996
101
Warum gibt es Demonstrationen gegen
Sex mit Kindern?
Eine nicht zu unterschätzende Botschaft
Letzte Woche schrieb ich, daß jedes gesellschaftliche Verhalten interpretiert werden muß, erst recht aber jene Verhaltensweisen, die eindeutig Botschaften sind, wie in den Moden, wo jemand, der sich einen Smoking anzieht, das nicht tut, um sich vor der Kälte zu schützen, sondern um den anderen eine bestimmte Absicht mitzuteilen. Ebenso kann man sagen (darüber ist lange in den Jahren der »blei-ernen Zeit« diskutiert worden, und mit den jüngsten Atten-taten in Frankreich wird es wieder aktuell), wenn jemand irgendwo eine Bombe legt, tut er das nicht, um zufällig vorbeikommende Passanten zu töten, sondern um jemandem eine Warnung zukommen zu lassen. Mit anderen
Worten – so sehr es uns schaudern lassen mag, daß zum Schreiben von Botschaften menschliches Blut wie Tinte benutzt wird –, bestimmte Verhaltensweisen sind kommu-nikative Akte und müssen als solche gelesen werden. Andere, zum Glück unblutige, sind zugleich Botschaften (die Leute wollen etwas ausdrücken) und Symptome (indem sie es so und nicht anders ausdrücken, wollen sie uns etwas zu verstehen geben).
Vor zwei Wochen gab es in Genua einen Marsch gegen sexuellen Mißbrauch von Kindern, eine Demonstration, die vor einiger Zeit auch in Belgien stattgefunden hatte.
Was bedeutet das? Stellen wir gleich klar, daß Sex mit Kindern für jeden normalen Menschen etwas sehr Übles ist, und dieses Urteil soll hier nicht in Frage gestellt werden. Daß es nur für unsere heutige Zivilisation gilt und für 102
die klassischen Griechen durchaus nicht so selbstverständlich war, ist eine andere Sache. Es hat Gesellschaften gegeben, die den Kannibalismus gerechtfertigt und ermutigt haben, aber unsere moderne Zivilisation verurteilt ihn, und wir alle sind damit einverstanden.
Was bedeutet es, massenhaft auf die Straße zu gehen, um gegen ein Verbrechen zu demonstrieren, das die Gesellschaft einmütig verurteilt? Anders gefragt, welche Bedeutung hätte eine Demonstration gegen Sexualmord, gegen Muttermord, gegen Kindesmord? Sie würde recht seltsam erscheinen, man demonstriert schließlich, um für etwas einzutreten, was die Mehrheit der anderen nicht anerkennt, also zum Beispiel für die Rechte einer Minderheit, für an-gemessene Renten oder gegen die Arbeitslosigkeit, aber eben weil man der Meinung ist, daß diese Rechte gewöhnlich mit Duldung der öffentlichen Gewalten verletzt werden.
Mag sein, daß der Marsch in Belgien einen Sinn hatte, weil man der Ansicht war, daß es dort eine Verantwortung oder zu geringe Überwachung seitens der Regierung gab.
Aber hat es
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