Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
ganzen Nachmittag frei hatte. Es war der Tag der Begegnung Italien – Norwegen, und es schien unmöglich, daß der Gast ein so großes Ereignis zerstreut übersehen haben könnte. Im übrigen wäre ich, was immer ich auch in jenen Stunden getan hätte, allein gewesen.
Ganz Buenos Aires hockte vor dem Fernseher.
Deswegen habe ich den insistenten Fragen der Journalisten nicht ausweichen können. Dabei hatte ich mir das Spiel durchaus angesehen, es war ein schönes Spiel, und wenn man da mittendrin sitzt, kann man sich einem Minimum an Herzklopfen nicht entziehen, aber wenn man
mich über Fußball befragt, ist es immer so, als befragte man mich über Dänemark. Dänemark ist ein entzückendes Land, ich bin mehrmals dort gewesen, habe es von Ander-sens Seejungfrau bis Helsingör und bis Jütland bereist und würde es gern wiedersehen. Aber ich kann nicht sagen, daß mich der Gedanke an Dänemark nachts nicht schlafen läßt und daß ich mir am nächsten Morgen von einem an-geheuerten Spezialisten die dänischen Zeitungen überset-zen lasse. Ich bin zufrieden, daß es Dänemark gibt, und das genügt mir.
Versucht man zu erklären, welche Gefühle ein normaler Mensch für den Fußball empfindet, erntet man häufig Un-95
verständnis. Und so hat ein argentinisches Blatt der Ver-suchung nicht widerstanden, einen Artikel über mich mit der mir zugeschriebenen Erklärung »Fußball ist eine sexuelle Perversion« zu überschreiben. Ich hatte etwas Diffe-renzierteres gesagt und habe es auch schon bei anderer Gelegenheit dargetan, aber ich will hier noch einmal versuchen, meinesgleichen zu erklären, was ich meinte.
Ich bin der Ansicht, daß ein normaler Mensch, solange er das entsprechende Alter hat, sich in der körperlichen Liebe betätigen sollte, und ich halte das für eine gesunde und schöne Tätigkeit. Sodann gibt es Fälle, in denen man anderen dabei zusieht, wie sie diese schöne Tätigkeit aus-
üben. Ich denke nicht unbedingt nur an Filme im Rotlicht-viertel, es genügt ein normaler Film, in dem man zwei schöne Menschen sieht, die sich anmutig paaren. In den Grenzen des Maßvollen kann das eine befriedigende Erfahrung sein. Schließlich gibt es jene sexuell Verklemm-ten, die sich erregen, wenn sie jemanden erzählen hören, er habe in Amsterdam gesehen, wie es zwei miteinander trieben. Hier scheint mir die Grenze zur Perversion erreicht (außer in Fällen von offenkundigem Handicap, wenn man gezwungen ist, zu nehmen, was man kriegt).
Ich glaube, beim Fußball ist es ganz ähnlich. Fußball-spielen ist eine schöne Sache, und ich bedauere nur, daß ich in meiner Kindheit und Jugend als Meister des Eigen-tors galt, weshalb ich zu wichtigen Spielen nie zugelassen wurde. Aber man kann auch versuchen, ein bißchen auf der Wiese herumzubolzen, und das ist gut für die Gesundheit. Sodann kommt es vor, daß es elf Freunde gibt, die besser spielen als man selbst, so daß es ziemlich erregend ist, ihnen beim Spielen zuzusehen. Ab und zu widerfährt mir das, und dann genieße ich es, als wäre ich in der Oper.
Schließlich gibt es jene Leute, die den ganzen Tag damit verbringen, sich bis zur Gefahr des Herzinfarkts darüber 96
zu ereifern, was in den Zeitungen über Spiele steht, die sie womöglich gar nicht gesehen haben. Und hier scheint mir die Grenze zur Perversion erreicht (außer in Fällen von offenkundigem Handicap, wenn man gezwungen ist, zu nehmen, was man kriegt).
Nun könnte mir jemand entgegenhalten, das gleiche gelte auch, wenn man ins Theater, in die Oper, ins Konzert geht. Ob ich es etwa für eine minderwertige Ersatzhand-lung hielte, wenn jemand hingeht, um sich die Musici oder Pavarotti anzuhören oder Vittorio Gassman zu sehen? In einem gewissen Sinne ja, nämlich wenn er niemals versucht hat, selber zu singen, ein Instrument zu spielen, wie dürftig auch immer, oder einen Text aufzusagen, sei’s auch nur in der örtlichen Laienspielgruppe. Ich denke hier nicht an die marxsche Utopie einer befreiten Gesellschaft, in der jedermann Fischer und Jäger ist und so weiter, aber ich denke, wer einmal versucht hat, auch nur eine Okarina zu spielen, kann besser einschätzen, was Pollini tut. Nur wer hin und wieder, sei’s unter der Dusche oder beim Blumengießen, O dolci baci, o languide carezze zu singen versucht (oder auch bloß Eleanor Rigby ),kann die außer-ordentlichen Gaben eines großen Sängers würdigen. Wer nie versucht hat, Für Elise zu klimpern, ist weniger in der Lage, die Darbietung eines
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