Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
gestalteten Werke zu-sammenstellen kann. Ja und? Eines Tages werden die Set-zereien, die Druckereien, die traditionellen Buchbinderei-en verschwunden sein, aber wir werden noch immer und immer wieder ein Buch in der Hand halten.
1994
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Bücherlesen mit den Fingerkuppen
Eine häusliche Bibliothek ist nicht nur ein Ort, an dem Bücher versammelt werden; sie ist auch ein Ort, der sie für uns liest. Wie ich das meine? Nun, ich denke, jedem von uns, der eine gewisse Anzahl von Büchern besitzt, ist es widerfahren, sich jahrelang Gewissenbisse gemacht zu haben, weil er einige Bücher noch nicht gelesen hatte, die ihn jahrelang vorwurfsvoll vom Regal herab ansahen, als wollten sie ihn an seine Vergeßlichkeit erinnern.
Eines Tages nimmt man dann eines dieser Bücher zur Hand, beginnt zu lesen und entdeckt, daß man schon fast alles kennt, was darin steht. Für dieses sonderbare Phänomen, das sicherlich viele bezeugen können, gibt es nur drei vernünftige Erklärungen. Erstens: Im Lauf der Jahre hat sich durch die verschiedenen Berührungen, wenn wir das Buch umgestellt, abgestaubt oder auch bloß ein Stück zur Seite geschoben haben, um ein anderes besser heraus-ziehen zu können, etwas von seinem Inhalt über unsere Fingerkuppen in unser Hirn übertragen, wir haben es also gewissermaßen taktil gelesen, als ob es in Blindenschrift gedruckt wäre. Ich bin ein Anhänger des CICAP* und glaube nicht an paranormale Phänomene, aber in diesem Fall schon, auch weil ich das Phänomen gar nicht für paranormal halte. Im Gegenteil, es ist stinknormal und wird von der Alltagserfahrung bestätigt.
Zweite Erklärung: Es stimmt gar nicht, daß wir das frag-
* Comitato Italiano per il Controllo delle Affirmazioni sul Paranormale (Ital.
Komitee zur Kontrolle der Behauptungen über das Paranormale), Mitglied des European Council of Skeptical Organisations; Genaueres unter www.cicap.org (A. d. Ü.).
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liche Buch nie gelesen haben. Jedesmal, wenn wir es ver-schoben oder abgestaubt haben, haben wir einen kurzen Blick darauf geworfen, die Umschlagbanderole gelesen, es irgendwo aufgeschlagen und ein paar Seiten überflogen, und so haben wir nach und nach einen großen Teil absorbiert. Dritte Erklärung: Im Lauf der Jahre haben wir andere Bücher gelesen, in denen von diesem die Rede war, so daß wir, ohne es uns bewußt zu machen, gelernt haben, was es zu sagen hatte (sei’s daß es sich um ein berühmtes Buch handelte, von dem alle gesprochen haben, oder um ein banales, dessen Ideen so gewöhnlich sind, daß wir sie fortwährend anderswo gefunden haben).
In Wahrheit glaube ich, daß alle drei Erklärungen richtig sind und miteinander interagieren. Man liest andere Bü-
cher, ohne zu merken, daß man dabei auch irgendwie dieses liest, und schon bei der bloßen Berührung spricht etwas in der Graphik, in der Konsistenz des Papiers, in der Farbe von einer Epoche, von einem bestimmten Ambiente.
All diese Elemente gemeinsam »gerinnen« auf mirakulöse Weise und wirken zusammen, um uns jene Seiten vertraut zu machen, die wir, streng genommen, nie gelesen haben.
Wenn daher eine Bibliothek dazu dient, den Inhalt nie gelesener Bücher kennenzulernen, dann ist das, worüber wir uns Sorgen machen sollten, nicht das Verschwinden des Buches, sondern das Verschwinden der häuslichen Bibliotheken.
1998
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Keine Angst vor dem Hypertext
Gespräch mit einem Schriftstellerfreund, der leicht verstört von einem Kongreß zurückkommt, wo er von »Hy-pertexten« hat reden hören. Ein Hypertext ist jene Teufe-lei, die dem Benutzer eines Computers erlaubt, im Innern eines gegebenen Textes zu »navigieren«, indem er gleichzeitig mehrere Teile davon durchsieht, verschiedene Stellen in Beziehung zueinander setzt, Kreuzungen, Verbindungen, Knotenpunkte entdeckt … Das ist sehr nützlich für eine Vielzahl von Dingen, besonders wenn man etwas nachschlagen muß oder für didaktische Zwecke, aber mein Freund hat davon im Zusammenhang mit literarischen Ak-tivitäten gehört.
»Die sagen, die Art des Lesens werde sich verändern.
Jeder könne dann in einem Werk herumsegeln, wie’s ihm paßt. Eine neue Kunstepoche werde entstehen.« Offensichtlich fürchtet er, daß er selbst bald zum alten Eisen ge-hört. Ich versuche ihn zu beruhigen. Mit einem guten Hypertext könne man beispielsweise in der Göttlichen Komödie alle Verse finden, die mit »antwortete er«
( rispuose )enden (es sind 14, falls es jemanden interessiert), und sie sich sogar
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