Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
hintereinander ausdrucken lassen, als wär’s eine Litanei mit immer demselben Reim. Doch wenn jemand einen ganzen Gesang in Ruhe lesen will, hält er sich besser an eine gedruckte Ausgabe, denn am Bildschirm verdirbt man sich leicht die Augen.
»Die sagen, es werde schließlich Romane mit vielfältigen Verzweigungen, Ausgängen und Enden geben, und
dann werde sich jeder seinen eigenen Roman drucken …«
Keine Sorge, entgegne ich, außerdem brauche man dazu 115
keinen Hypertext, das habe man auch schon mit einem kleinen Basic-Programm machen können, das sei es nicht, was die Leute wollen. »Wieso?« fragt er mich. O heiliger Bimbam, diese Intellektuellen! Der einzige Sport, den sie treiben, ist die Pflege der Furcht, das Buch gehe schlech-ten Zeiten entgegen. Seit den Tagen der Keilschrift kommen sie immer wieder darauf zurück. Hör zu, sage ich zu ihm, hier ist das letzte Buch von Jurij Lotman, Kultur und Explosion (Feltrinelli). Es ist nicht nur die neueste Übersetzung, es ist auch ein ganz neues Buch, denn es ist gerade erst dieses Jahr in Rußland erschienen. Es handelt von vielerlei Dingen und läßt sich nicht in wenigen Worten zusammenfassen, aber an einem bestimmten Punkt, im vierten Kapitel, kommt es auf ein geflügeltes Wort von Tschechow zu sprechen, das mit dem Gewehr an der Wand.
»War das nicht von Puschkin?« Ich weiß nicht, mal wird es Tschechow, mal Puschkin zugeschrieben, aber wenn Lotman sagt, es sei von Tschechow, dann glaube ich ihm.
Es handelt sich um die berühmte Empfehlung, der zufolge ein Gewehr an der Wand, wenn es am Anfang einer Er-zählung erwähnt oder im ersten Akt eines Stückes zu sehen ist, vor dem Ende einen Schuß abgeben muß. Dazu schreibt nun Lotman: »Tschechows Regel hatte nur Sinn innerhalb einer bestimmten Gattung, die heute obendrein völlig erstarrt ist. In Wirklichkeit ist es gerade die Unge-wißheit, ob das Gewehr einen Schuß abgeben wird oder nicht und ob dieser Schuß eine tödliche Verletzung bewirkt oder sich nur als der Krach einer auf den Boden ge-fallenen Konservendose herausstellt, was der Handlung einen Sinn verleiht.«
Und kurz davor hatte er geschrieben: »Wenn der Zu-
schauer sich in Gedanken in jene ›gegenwärtige Zeit‹ versetzt, die im Text realisiert wird (zum Beispiel im ›gegebenen‹ Bild, während ich es betrachte), ist es, als richte er 116
seinen Blick in die Vergangenheit, die sich zusammen-zieht wie ein Kegel, der mit seiner Spitze in der gegenwärtigen Zeit ruht. Indem das Publikum seinen Blick in die Zukunft richtet, versinkt es in einem Bündel von Möglich-keiten, die ihre potentielle Wahl noch nicht getroffen haben.«
Verstanden? Und du meinst, der Leser wolle sich dieser Spannung, dieser lustvollen Qual begeben, um selbst zu entscheiden, wie die Geschichte ausgeht? Einen Roman liest man, um den Schauder des Schicksals zu verspüren.
Wenn ich selbst über das Schicksal der Personen entscheiden könnte, wäre es, als wenn ich in ein Reisebüro ginge und beim Buchen einer Reise um die Welt gefragt würde:
»Und wo wollen Sie dem Weißen Wal begegnen, bei Sa-moa oder bei den Aleuten? Mit dem Round-the-World-
Ticket kostet’s dasselbe …«
In einem Roman stehen vielerlei Dinge, es wird sogar gesagt, daß – was weiß ich – eine Wolke am Himmel vor-
überzieht oder eine Eidechse zwischen den Steinen huscht.
Noch einmal Lotman: »Die Unkenntnis der Zukunft erlaubt uns, allem eine Bedeutung zu geben.« Das ist schön.
Herauszufinden, worauf es ankommt, und es noch nicht zu wissen. Erst am Ende weißt du, wenn überhaupt, was du dir hättest besser ansehen (oder überhaupt erstmal sehen) müssen, und manchmal weißt du nicht einmal das, und deshalb mußt du das Ganze noch einmal von vorne lesen, und beim Wiederlesen wird sich dir auch die Bedeutung des Ganzen verändern. Doch am Anfang und während des Lesens bist du wie mitten in einer detektivischen Untersuchung, und der Schuldige ist der Autor.
Und da glaubst du im Ernst, die Leute würden dafür bezahlen, daß sie selber entscheiden können, ob sich die Brautleute Renzo und Lucia am Ende kriegen? Vielleicht einmal ausnahmsweise, zum Spaß, so wie man auf dem 117
Jahrmarkt auch mal zur Schießbude geht. Aber Geschich-tenlesen ist eine andere Geschichte.
»Muß ich wirklich nicht um meine Zukunft fürchten«, fragt mich mein Schriftstellerfreund. »Doch, in einer Hinsicht schon, aber nur, weil du von dir aus schlechte Romane schreibst – und auch das ist eine
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