Derrick oder die Leidenschaft für das Mittelmaß
andere Geschichte.«
(Anmerkung: Den Anstoß zu diesem Lehrstück gab mir ein Gespräch mit einem Freund, der sehr schöne Romane schreibt. Aber ich brauchte eine Schießbudenfigur, um diesen Streichholzbrief zu beenden.)
1993
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Ein neuer Heiliger Krieg:
Mac gegen DOS
Ungenügende Beachtung hat der verborgene neue Religi-onskrieg gefunden, der im Begriff ist, unsere moderne Welt tiefgreifend zu verändern. Ich habe den Verdacht schon lange, aber jedesmal, wenn ich ihn irgendwo er-wähne, stelle ich fest, daß die Leute mir spontan zustim-men.
Tatsache ist, daß die Welt sich heute in Benutzer des Macintosh und Benutzer der mit DOS laufenden Computer teilt. Ich bin der festen Überzeugung, daß der Macintosh katholisch und DOS protestantisch ist. Mehr noch, der Mac ist katholisch im gegenreformatorischen Sinn, durchdrungen von der jesuitischen » ratio studiorum «. Er ist heiter, freundlich und entgegenkommend, er sagt dem Gläubigen, wie er Schritt für Schritt vorgehen soll, um wenn nicht das Himmelreich, so doch den Moment des er-folgreichen Ausdruckens der Datei zu erreichen. Er ist ka-techistisch, das Wesen der Offenbarung wird in verständliche Formeln und prächtige bunte Ikonen gefaßt. Jeder hat Anrecht auf das Heil.
DOS dagegen ist protestantisch, ja geradezu calvinistisch. Es sieht eine freie Auslegung der Schriften vor, es verlangt schwierige persönliche Entscheidungen, es zwingt dem Gläubigen eine subtile Hermeneutik auf und nimmt als gegeben, daß nicht jeder zum Heil gelangt. Um das System funktionieren zu lassen, sind persönliche Ex-egesen des Programms erforderlich. Weit entfernt von der barocken Festgemeinde, sitzt der Benutzer eingeschlossen in der Einsamkeit seiner Gewissensnot.
119
Man wird mir entgegenhalten, mit dem Übergang zu
Windows habe die DOS-Welt sich der gegenreformatorischen Toleranz des Macintosh angenähert. Richtig: Windows repräsentiert ein Schisma vom anglikanischen Typus, große Zeremonien in der Kathedrale, aber stets mit der Möglichkeit einer schnellen Rückkehr zu DOS, um aufgrund bizarrer Entscheidungen eine Vielzahl von Dingen zu ändern; letztlich könnte man, wenn man will, auch das Priesteramt den Frauen oder den Schwulen anvertrauen.
Natürlich haben Katholizismus und Protestantismus der beiden Systeme nichts mit den kulturellen und religiösen Positionen ihrer Benutzer zu tun. Neulich mußte ich entdecken, daß Franco Fortini, der strenge und immer zer-quälte Dichter, der noch dazu ein erklärter Feind der Gesellschaft des Spektakels ist, auf einem Macintosh schreibt, es war kaum zu glauben. Allerdings muß man sich fragen, ob die Benutzung des einen Systems anstelle des anderen nicht auf die Dauer zu tiefen inneren Verwer-fungen führt. Kann man ernstlich DOS-User und zugleich aufrichtiger Papst-Fan sein? Und übrigens: Hätte Céline mit Word, mit WordPerfect oder mit Wordstar geschrieben? Hätte Descartes in Pascal programmiert?
Und die Maschinensprache, die im tiefen Untergrund über das Schicksal beider Systeme entscheidet, gleich in welcher Umgebung? Nun, die ist Altes Testament, Tal-mud, Kabbala …*
1994
* Dieser Streichholzbrief wurde vor sechs Jahren geschrieben. Inzwischen haben sich die Dinge geändert. Die diversen releases haben Windows 95 und 98
dazu geführt, zusammen mit Mac entschieden tridentinisch-katholisch zu werden. Die Fackel des Protestantismus ist in die Hände von Linux übergegangen. Aber der Gegensatz ist geblieben (A. d. A., 1999).
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Chronik einer sündigen Nacht
Wenn sie das Internet zu erkunden beginnen, gehen fast alle sofort daran, sich mit Playboy und Penthouse in Verbindung zu setzen. Nachdem sie das einmal getan und sich die Ausklappseiten mit den Häschen der letzten zwei bis drei Monate auf den Bildschirm geholt haben, lassen sie’s bleiben, denn – wie groß und hochauflösend der Bildschirm auch sein mag – es ist leichter und befriedigender, sich das Heft am Kiosk zu kaufen. Doch gewöhnlich er-zählen einem die Freunde, sie hätten irgendwo unerhörte Bilder gefunden, und so versucht man es eben auch mal, sei’s auch nur, um zu beweisen, daß man ein guter »Surfer« ist.
Vorgestern nacht, müde vom Navigieren zwischen Bi-
bliographien über die Metapher, Programmen zur Erzeugung von Hypertext-Stories und der Kritik der reinen Vernunft in einer alten englischen Übersetzung, die nicht mehr dem Copyright unterliegt, verlangte ich von meinem Web Crawler »Sex«. Er identifizierte 2088 Adressen
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