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Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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dachte Simon.
    Seine roten, orangefarbenen und gelben Blumen waren wie ein Farbblitz in dem pastellfarbenen Zimmer.
    »Dein Bruder ist so lieb zu dir. Ich wünschte, mir würde auch ein gutaussehender Mann Blumensträuße bringen. Ich stell sie in eine Vase, in Ordnung, Mr. Serrailler?«
    »Danke, Shirley. War sonst schon jemand da?«
    »Oh, wir hatten hier heute Nachmittag ein richtiges kleines Fest. Wir wollten Martha eigentlich in den Aufenthaltsraum schieben, aber ihr lief heute Morgen ein wenig die Nase, und Sie wissen ja, was passiert, wenn sie eine Erkältung bekommt … die zurzeit ziemlich grassieren. Also blieb sie hier, und wir haben in ihrem Zimmer gefeiert, Tee und ein Kuchen und Kerzen und Eis, und wir haben gesungen. Schauen Sie, Rosa hat ihr diesen glitzernden Ballon geschenkt … Sie liebt ihn. Sie hätten ihr Gesicht sehen sollen, als sie ihn sah, sie hat mit den Händen gefuchtelt, und ihre Augen haben gestrahlt … Und ihr hat auch das Eis geschmeckt, und wir haben ihre Geburtstagskarten geöffnet.«
    Das Zimmer seiner Schwester war festlich geschmückt mit Ballons und Blumen und roten Bändern an ihrem Bett und dem Frisiertisch. Sie lieben sie wirklich, dachte er, sie pflegen sie und sorgen für sie, wofür sie bezahlt werden, aber sie lieben sie auch.
    Martha trug einen gelben Strickschal über ihrem Nachthemd, und ihr Haar war frisch gewaschen und mit einer orangefarbenen Schleife zurückgebunden. Sie reagierte auf Farben genau wie auf Musik. Simon hatte ihr eine neue CD mit Blasmusik mitgebracht.
    Er hatte oft ihr Gesicht beobachtet, wenn Musik ertönte, und das Flackern von Leben und Erkennen wahrgenommen, das sicherlich Freude bedeutete.
    »Es scheint ihr gutzugehen, Shirley.«
    Die Pflegerin war mit den Blumen in einer großen, fächerförmigen Vase zurückgekommen, deren Oberfläche perlmutterfarben schimmerte.
    »Ja, vielleicht war auch nichts, nur müssen wir immer vorsichtig sein mit unserer kleinen Martha, nicht wahr?«
    »Sie ist heute sechsundzwanzig geworden.«
    »Mir kommt sie immer noch klein vor … uns allen. Sie wissen, wie das ist.«
    »Ich weiß.«
    Simon nahm Marthas Hand in seine. Sie bewegte leicht den Kopf.
    »Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag, Schätzchen.«
    »Dr. Chris war heute Morgen da und hat ihr das gebracht … Schauen Sie.« Shirley griff nach einem leuchtend pinkfarbenen Stofftier, einem Tintenfisch mit riesigen Augen, die herumrollten. »Wir haben es ihr den ganzen Nachmittag über in den Schoß gelegt. Sie hat immer wieder danach gegriffen.«
    Stofftiere. Luftballons. Gegenstände mit leuchtenden Farben. Babysachen.
    Er erinnerte sich, wie er kurz nach ihrer Geburt in ihr Kinderbettchen geschaut hatte. Sie war ihm wie ein Klumpen Kitt vorgekommen, teigfarben und schlaff. Nur ihr Haar war wunderschön. »Many Happy Returns« war auf eine der Karten gedruckt, in Glitzerschrift, ein großes Herz in Rosa und Lila. Ist es das, was wir ihr wünschen sollten? Viele weitere Geburtstage? Jahr um Jahr so gut wie gar nichts. Er streichelte die weiche, seidige Haut ihrer Hand, die schlaff und reglos in der seinen lag.
    »Ich hoffe, Sie finden den kleinen Jungen, Mr. Serrailler, ich kann kaum schlafen, weil ich immer an ihn denken muss, wissen Sie? Ich hab mich schon gefragt, ob Sie bei alldem heute überhaupt herkommen würden.«
    »Ich muss auch gleich wieder los. Ich wollte keinesfalls ihren Geburtstag versäumen, aber viel Zeit hab ich nicht.«
    »Gibt es was Neues?«
    »Eigentlich nicht.«
    »Ich nehme an, Sie können nichts sagen …«
    »Ich versichere den Leuten immer wieder, Shirley, dass ich was sagen würde, wenn es etwas gäbe. Im Moment ist die Spur kalt.«
    »Ich hab mitgekriegt, dass Sie eine von diesen Rekonstruktionen machen wollen … Vielleicht wird sich dann jemand daran erinnern, ihn gesehen zu haben.«
    »Vielleicht. Das funktioniert gelegentlich.«
    »Armer kleiner Junge. Möge der Heiland ihn segnen und bewahren. Gepriesen sei Gott.« Shirley hatte die Augen geschlossen, die Hände gefaltet, und ihre Stimme war inbrünstig. »Und mögen jene, die ihn entführt haben, wissen, dass der Herr Rache üben wird. Seine kleinen Helfer und die Flammen der Hölle erwarten die Bösen und Gottlosen. Amen.«
    Simon ging rasch aus dem Zimmer, erschrocken über die Leidenschaft in der Stimme der sonst so sanften Pflegerin. Er sah zurück zu seiner Schwester zwischen all den bunten Farben und den Ballons, und der Anblick munterte ihn für den Rest

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