Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
Vom Netzwerk:
Engel.«
    »Ich versteh das nicht.«
    »Eines Tages wirst du es verstehen. Ich bete jeden Abend für dich, Rosa.«
    »Ich brauch keine Gebete, vielen Dank.«
    »Natürlich brauchst du die. Wir brauchen sie alle. Lobet den Herrn.«
    Shirley ließ Eier und Speck geschickt auf die beiden Teller gleiten, während Rosa den Toast mit Butter bestrich. Der Sturm drückte mit einem heftigen Windstoß beinahe eine Scheibe ein. Das Licht flackerte.
    »Ein Stromausfall würde uns gerade noch fehlen.«
    »Ich bin das Licht der Welt«, sagte Shirley und goss Tee ein.
    Auf der anderen Seite des nassen Rasens, hinter den sich wie wild biegenden Bäumen, schien Licht aus der Rückseite der Ivy Lodge. Es gab doch keinen Stromausfall.
     
    Hester Beesley machte ihre Runde mit dem Getränkewagen und füllte die Plastikschnabelbecher mit lauwarmer Ovomaltine. Patienten, die Medikamente bekamen, wurden vom Pflegepersonal als Letzte versorgt.
    Zerstreut schob Hester die Tür zu Zimmer 6 auf und war einen Augenblick lang verwirrt, weil es drinnen dunkel und kalt war. Sie knipste das Licht an. Das Bett war abgezogen. Die Heizung war ausgeschaltet. Die Schranktür stand offen. Das hat ja nicht lange gedauert, dachte sie und ging wieder hinaus. Mrs. Fox war erst seit einem halben Tag tot, und in ihrem Zimmer gab es keine Spur mehr von ihr. Als hätte sie nie existiert.
    Mr. Pilgrim existierte jedoch, saß regungslos und schweigend da, abgesehen vom Zittern seiner Hände und dem Speichelfaden, der ihm vom Kinn auf das Lätzchen lief. Nachdem sie ihn versorgt hatte, ging sie zu Martha, deren Zimmer voll mit bunten Blumen und Karten, einem neuen Stofftier und dem immer noch an den Bettpfosten gebundenen Ballon war.
    »Bereite sie noch nicht zum Schlafen vor.« Schwester Aileen steckte den Kopf zur Tür herein. »Sie bekommt noch Besuch – der Arzt hat eine Nachricht hinterlassen.«
    »Dann mach ich sie nur frisch. Oh, schau mal, jemand hat deine Fingernägel lackiert, Schatz, ich wette, das war Shirley. Gefällt es dir? Du bist ein hübsches Mädchen.«
    Aileen Whetton verzog das Gesicht über die Babysprache, aber das war Hesters Art, und wie sollte Martha den Unterschied bemerken?
    Tiere setzten die Kümmerlinge ihres Wurfs zum Sterben aus. Menschen hatten einst dasselbe getan. Jetzt wurde alles unternommen, um sie jedes Mal zurückzubringen, wenn sie bereit waren, die Tür zu durchschreiten. Niemand ließ sie einfach entschlüpfen.
    Aber zumindest tat Marthas Familie mehr, als nur Schecks auszustellen.
    Aileen schloss den Medikamentenwagen auf und zählte Lady Fisons Schlaftabletten in einen Plastikbecher ab. Sie dazu zu bringen, die Tabletten einzunehmen, konnte eine Viertelstunde dauern.
    Aileen öffnete die Tür. Die alte, kahlköpfige Frau saß im Bett, starrte in die Luft, während in ihrem Radio irische Tanzmusik lief. Aus Lady Fisons Radio dröhnte von morgens bis abends Musik. Wenn es ausgeschaltet wurde, weinte sie; wenn es aus blieb, schrie sie.
    »So, hier sind die Tabletten«, sagte Aileen, rasselte damit in dem kleinen, durchsichtigen Becher.
    Ein Stück den Flur entlang wusch Hester Martha Serraillers Gesicht mit dem Schwamm ab und band ihre Schleife neu.
    »Eure Königliche Hoheit sollen doch schön aussehen für den Ball.«
    Spontan nahm sie eine der leuchtend roten Blumen aus dem Strauß auf dem Tisch und steckte sie dem Mädchen in das weiche, blonde Haar.
    »Du bist eine Schönheit«, sagte sie. »Wer ist meine Schönheit?«
    Martha rührte sich nicht.
     
    Im Bungalow stieß der Papagei Elvis ganz plötzlich sein Zuggeräusch aus und ließ Rosa auf ihrem Stuhl zusammenzucken. Sie spielten Uno.
    »Verpiss dich.«
    »Elvis, ich deck dich gleich zu. Lass das Fluchen.«
    »Gott schütze die Königin.«
    »Ja, das ist besser. Wir lieben die Königin, nicht wahr?«
    »Hast du das Foto von Prinz William in der
Mail
gesehen? Das genaue Abbild seiner Mutter, wie er so scheu nach unten schaut, weißt du.«
    »Ich mag William.«
    »Tja, ich mag Charles. Er tut so viel Gutes, wovon die Öffentlichkeit nichts erfährt … All diese Sachen für die jungen Leute, und dann seine Bemühungen darum, dass nicht zu viele von diesen Hochhäusern gebaut werden.«
    »Verflucht, verflucht, verflucht.«
    »So, das war’s, ich hab dich gewarnt.«
    Shirley griff nach dem roten Samttuch und deckte es über den Papageienkäfig.
    »Never Surrender«, sagte Elvis noch, bevor er in Schweigen und Dunkelheit versank.
    Sie blieben bis elf auf, sahen

Weitere Kostenlose Bücher