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Des Abends eisige Stille

Des Abends eisige Stille

Titel: Des Abends eisige Stille Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Susan Hill
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fertig, schnitt sie auf und gab sie in einen Topf mit Wasser, suchte dann nach einer Möhre. In dem Moment klingelte ihr Handy.
    » DC Marshall.«
    »Hi, Kate, ich bin’s, Nathan.«
    »Ist was passiert?«
    »Nicht viel … nur, dass sich was aus der Rekonstruktion ergeben hat. Ein Mann hat heute Morgen angerufen. War gerade hier. Ein Fahrradfahrer. Sagte, zuerst hätte nichts geklickt, erst als er zur Arbeit kam, wär’s ihm wieder eingefallen.«
    »Was denn?«
    »Dass er David Angus an der Einfahrt hat stehen sehen, die Schultasche auf dem Boden. Hat die Straße hinaufgeschaut, so um zehn nach acht.«
    »Und?«
    »Und das war’s.«
    »Oh.«
    »Also ein Augenzeuge … David war eindeutig da.«
    »Tja, das wussten wir doch schon.«
    »Hätte sein können … Wäre aber auch möglich gewesen, dass wir damit hinters Licht geführt werden sollten.«
    »Wieso?«
    »Dad hätte zurückkommen können. Sagen können, er würde ihn doch mitnehmen.«
    »Na, hör mal. Außerdem hat die Spurensicherung Dads Auto von oben bis unten durchsucht – machen sie doch immer. Das weißt du so gut wie ich – als Erstes die Eltern verdächtigen, versuchen, es ihnen anzuhängen. Da war aber nichts. Hat der Radfahrer sonst noch was gesehen?«
    »Nein. Tut mir leid.«
    »Na gut. Danke, Nathan.«
    Kate fand ein scharfes Messer und eine Zwiebel und begann sie zu schneiden, unter kaltem Wasser, wie ihre Mutter das immer getan hatte, was aber überhaupt nichts nützte, denn die Augen tränten trotzdem. Also musste sie jetzt den Angus sagen, dass es etwas Neues gab, aber doch nichts Neues … Nichts, was sie nicht bereits wussten. Wenn der Mann auf dem Fahrrad doch nur eine oder zwei Minuten später gekommen wäre, dann hätte er vielleicht … Aber so durfte man nicht denken. Halt dich an die Fakten, hatte man ihr immer und immer wieder eingebleut, spekuliere nie. Zerstöre nie die Hoffnung, aber bau sie auch nicht auf. Halte dich an das, was du weißt, gib dich keinen Phantasien hin, und lass dich nicht in ihre hineinziehen …
    Von oben hörte sie die Stimmen der beiden, laut und wütend. Das Zuknallen einer Schranktür. Ein einzelner, gepeinigter Schrei.
    Sie trat aus der Küche, als Marilyn herunterkam, die Hände am Kopf, das Gesicht verzerrt von Tränen und Wut.
    »Sagen Sie nicht, dass alles in Ordnung ist, denn das ist es nicht … Es wird nie wieder in Ordnung sein. Was ist passiert? Sie haben etwas erfahren …«
    Kate führte sie in die Küche.
     
    In ganz Lafferton blickte David Angus’ Gesicht von den Plakaten, an Schaufensterscheiben und Fenstern, von Anschlagbrettern in Pubs und Clubs, in der Bücherei, dem Sportzentrum, dem Schwimmbad. Aber nicht nur in Lafferton; inzwischen hing das Plakat im ganzen Land. David Angus, der neunjährige Schuljunge mit dem ernsten Gesicht und den abstehenden Ohren, sah, wenn er hätte sehen können, wie Mütter ihre Kinder enger an sich zogen und Lehrer an Schultoren und Spielplätzen besorgt aufpassten; hörte, wenn er hätte hören können, was alle über »das arme Kind«, »diese armen Eltern« sagten; und schlimmer noch, hörte die Worte »tot« und »ermordet« und am häufigsten das Wort »hoffnungslos«.
     
    Als Simon Serrailler über den blauen Teppich zur Ausgangstür der Entbindungsstation ging, folgten ihm David Angus’ Augen vom Anschlagbrett. Simon erkannte, dass seine enorme Müdigkeit teilweise durch Hunger ausgelöst worden war. Er hatte kaum noch etwas in der Speisekammer, und ihm war überhaupt nicht danach, auswärts zu essen, aber der Anblick des Fischladens an der Ecke March Street munterte ihn auf.
    Er kaufte frisch gebratenen Schellfisch und eine Extraportion Pommes frites, ließ es sich doppelt einpacken und fuhr in raschem Tempo nach Hause.
    Das Geräusch der Stille beim Öffnen der Haustür war ihm nie einladender erschienen. Er schloss die Fensterläden gegen die feuchte Nacht, schaltete die Lampen an und legte sein Abendessen in den Ofen, bevor er sich ein großes Glas Laphroaig eingoss. Er war kein starker Trinker, besonders nicht allein zu Hause, daher würde ihm das, was er sich eingeschenkt hatte, durchaus genügen, um sich zu entspannen und seiner Müdigkeit und Durchfrorenheit, die mehr emotionaler als physischer Natur waren, die Schärfe zu nehmen.
    Er würde essen und trinken, sich Kaffee kochen und lesen – nicht die neue Biographie von Stalin, die er sich gestern gekauft hatte; mit dem Glas in der Hand schaute er sein Bücherregal

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