Des Erdenmannes schwere Bürde
Reling. Mit einem Ausruf des Entzückens klatschte Billy ins Meer.
„Bei meinen morschen Knochen!“ brüllte er fröhlich, strampelte längsschiffs herum und spuckte eine Wasserfontäne aus. „Man hat mich ermordet! Hilfe! Mann über Bord!“
Die Mannschaft strömte an Deck. Eine ganze Reihe pelziger Gestalten stürzte sich, irgend etwas von „Rettung!“ rufend, über die Reling. Der Zweite Offizier begann ein Boot abzufieren, entschied sich dann aber doch dazu, einen neben ihm stehenden Matrosen ins Wasser zu schubsen und sprang gleich hinterher.
„Anker werfen!“ schrie Alex panikerfüllt. „Mann … äh … ich meine Männer über Bord! Beidrehen!“
Der Rudergänger warf das Steuer herum und das Schiff legte sich mit knarrender Takelage seitlich gegen den Wind. Einen lauten Freudenschrei ausstoßend, verlor er das Gleichgewicht und fiel den anderen hinterher. Seine freudig krakeelende Stimme vermischte sich mit dem Chor derjenigen, die sich bereits in den Fluten befanden.
Die Tür der Kapitänskajüte flog auf. Yardly stürmte auf Alex zu und schrie: „Einhalt! Stop! Was hat das zu bedeuten?“ Er eilte auf die Reling zu und starrte nach unten.
„Wir ertrinken!“ heulte die Mannschaft und spielte fangen.
„Sofort einstellen!“ schrie der Captain. „Hört auf der Stelle mit dem Ertrinken auf! Ihr wollt britische Seeleute sein? Meuterische Hunde nenne ich euch! Verräterische, meuterische Hunde! Streitsüchtige, verräterische, meuterische Hunde! Pflichtvergessene, streitsüchtige …“
Er wirkte in seiner blauen Uniform und seinem spitzen Hut dermaßen unglücklich und erhitzt, daß Alex ihn impulsiv beim Kragen packte und kurzerhand zu den anderen hinunterwarf.
Captain Yardly durchbrach die Wasseroberfläche und kam spuckend und fäusteschüttelnd wieder nach oben. „Mr. Grünbart!“ donnerte er. „Dafür werden Sie sofort hängen! Das ist Meuterei !“
„Aber wir brauchen ihn doch nicht unbedingt aufzuhängen“, protestierte Alex, „oder etwa doch?“
„Bei meinen Seemannsgebeinen, Captain Grünbart“, sagte Billy erstaunt. „Er wollte dasselbe doch auch mit Ihnen machen.“
„Iss wüßte nisst, wie du dem entgehe könndes“, sagte Olaf und stülpte seine Schwertscheide um, damit das Meerwasser hinauslaufen konnte. „Chetz ssind wir Piraden.“
„Piraten?“ röchelte Alex.
„Was bleibt uns anderes übrig, Captain?“ fragte Billy. „Wir haben gemeutert, nicht wahr? Die britische Marine wird nicht eher Ruhe geben, bis sie uns das Handwerk gelegt hat.“
„Ach ja“, sagte Alex schwach. Wenn es zu den Spielregeln gehörte, daß Captain Yardly gehenkt wurde, mußte er halt mitspielen. Er wandte sich den beiden Matrosen zu, die ihn festhielten und sagte: „Knüpft ihn auf.“
Sie legten eine Schlinge um Yardlys Hals und traten freundlich zurück. Yardly machte einen Schritt nach vorn, musterte die Mannschaft mit einem finsteren Blick und verschränkte dann die Arme vor der Brust.
„Verräterisches, undankbares Pack!“ stieß er hervor. „Glaubt bloß nicht, daß man euch für dieses schmutzige Verbrechen nicht zur Rechenschaft ziehen wird! Sowie es eine göttliche und hokaische Gerechtigkeit gibt …“
Alex entdeckte eine Kiste und nahm seufzend darauf Platz. Yardly machte auf ihn ganz den Eindruck, als beabsichtige er, seine letzten Worte auf eine ganze Stunde auszudehnen. Alex entspannte sich. Er hörte der Rede nur mit halbem Ohr zu. Einer der Matrosen war damit beschäftigt, jedes Wort des abgesetzten Captains mitzuschreiben, damit man seine Rede später an Land veröffentlichen konnte.
„… diese sinnlose Meuterei … verschwörerhaft geplant … die Rädelsführer sind meinen Augen nicht entgangen … die Herzen einiger Getreuer vergiftet von ehrlosen Lumpen … vergebe euch persönlich, kann aber nicht … die britische Flagge befleckt … können mir nicht in die Augen sehen … um die Worte eines großen Mannes zu gebrauchen …“
„Oh, nein!“ sagte Alex unwillkürlich, aber Billy gab auf seiner Bootsmannspfeife dem Captain bereits den Ton an.
„Oh, mein Name ist Sam Hall, ist Sam Hall,
Ja, mein Name ist Sam Hall, ist Sam Hall …“
Wie die meisten seiner Artgenossen verfügte auch Captain Yardly über einen recht hübschen Tenor, fand Alex, aber wieso mußten sie ausgerechnet dieses Lied singen, wenn sie einen aufknüpften?
„Und jetzt muß ich ans Seil, ans Seil …“
Alex krümmte sich. Endlich war das Lied beendet.
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