Des Reichtums fette Beute - Wie die Ungleichheit unser Land ruiniert
permanente und sorgfältige
Analysen dessen Zustand im Auge behalten und dann, wenn der Zustand pathologisch zu werden droht, mittels geeigneter konjunkturpolitischer
Maßnahmen beruhigend oder stimulierend eingreifen. Doch was ist schon »geeignet«?
In diesem Zusammenhang ist der Unterschied zwischen Automatismen oder automatischen Stabilisatoren auf der einen Seite und
diskretionären Eingriffen auf der anderen Seite wichtig. Die Erstgenannten wirken ständig, ohne dass die Politik irgendeine
Entscheidung zu treffen braucht. Das macht ihren Vorteil aus, da auf diese Weise eine schnelle Reaktion auf konjunkturelle
Fehlentwicklungen gewährleistet ist.
In der Vergangenheit wurde immer wieder empfohlen, sich allein auf solche Mechanismen zu verlassen. In dem vorherrschenden
harmonischen Verständnis von Wirtschaft, die fortwährend auf einen Gleichgewichtszustand zustrebt, der allenfalls temporär
verlassen |233| wird, mag das ausreichen. Die Realität sieht härter aus. Außer Kontrolle geratene Bewegungen weg von jedem Gleichgewicht,
wie sie während der Finanzkrise auftraten, sind so kaum zu bewältigen: In diesen speziellen Situationen muss die Politik zusätzliche
diskretionäre Entscheidungen fällen, um die Wirtschaft wieder auf Kurs zu bringen. Man braucht also beides, adäquate Automatismen,
die kleinere Störungen auffangen und bei größeren helfen, und Konzepte für geeignete konjunkturpolitische Entscheidungen,
die im Fall einer tiefen Konjunkturkrise greifen sollen.
Die automatischen Stabilisatoren stärken
Das klingt selbstverständlich. Ist es aber nicht. Die Politik der vergangen Jahrzehnte verlief tatsächlich in die Gegenrichtung.
Das war in gewisser Hinsicht sogar konsequent. Wenn Konjunktur keine Rolle mehr spielt, braucht man sich vor ihr auch nicht
mehr zu schützen. Folglich wurde durch die Reformen der Einkommensteuer deren automatische Stabilisierungswirkung deutlich
geschwächt. Die Einkommensteuer erreicht diese Wirkung, indem bei stark steigenden Bruttoeinkommen, also bei guter Konjunktur,
der durchschnittliche Steuersatz gleichfalls steigt. Das bremst den Anstieg der Nettoeinkommen und damit die Ausgaben für
den privaten Verbrauch. Die Konjunktur wird gedämpft und damit die Gefahr gemindert, dass sie überschäumt. Umgekehrt fällt
bei sinkenden Bruttoeinkommen der Durchschnittssteuersatz; das mindert den Rückgang der Nettoeinkommen und stabilisiert folglich
den privaten Verbrauch. Der Konjunktureinbruch wird abgemildert. So leistet die Einkommensteuer einen gleichsam automatischen
Beitrag dazu, den Konjunkturverlauf zu stabilisieren.
Wie stark diese Eigenschaft dieser Steuer ausgeprägt ist, hängt davon ab, wie steil der Anstieg des Durchschnittssteuersatzes
bei zunehmenden Einkommen ist, wie hoch also der Progressionsgrad des Steuersystems ist. Genau dieser Progressionsgrad ist
aber, über den gesamten Einkommensverlauf gesehen, gesenkt worden. Das |234| geschah insbesondere durch den niedrigeren Spitzensteuersatz. Er greift einerseits zwar schon bei relativ niedrigen Einkommen,
was für sich genommen die Progressionswirkung erhöhte – mindert diese aber andererseits über den gesamten Verlauf, weil damit
die Progression schon bei vergleichsweise niedrigen Einkommen aufhört. Der Tarifverlauf ist also gestaucht worden. Es entstünde
erst recht ein Problem, wenn die immer wieder diskutierten Vorstellungen über weitere Steuerreformen mit nur wenigen – nach
den Vorstellungen des Steuerrechtlers Paul Kirchhoff sogar nur einem – Stufentarifen zum Zuge kämen. Die Einfachheit des Steuersystems
dürfte sich meiner Ansicht nach ohnehin als Illusion erweisen – aber wenn es so kommt wie befürchtet, würde auch seine stabilisierende
Wirkung zerstört.
Besser wäre es, den Tarifverlauf wieder zu dehnen, indem die Steuersätze zwar langsamer auf die Höhe des Spitzensteuersatzes
stiegen, dieser aber angehoben wird. Dann würde sich der Progressionsgrad wieder erhöhen und der automatische Stabilisator
Einkommensteuer gestärkt. Dies ist wichtiger als eine ohnehin fragwürdige Einfachheit. Steuern werden schließlich nicht auf
Bierdeckeln berechnet, sondern auf dem PC.
Auch die Arbeitsmarktreformen haben die automatische Stabilisierungswirkung des Sozial- und Abgabensystems geschwächt. Dies
zeigt sich vor allem dann, wenn eine konjunkturelle Schwäche länger als ein Jahr dauert, was man nicht ausschließen kann.
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