Des Teufels Alternative
Einzelzimmer geführt, in dem der Mann lag.
Von dem Lloyds-Agenten wußte Drake bereits, daß der Kranke zwar wieder bei Bewußtsein war, aber viel schlief und in wachem Zustand bisher noch kein einziges Wort gesagt hatte. Als Drake den Raum betrat, lag der Mann, die Augen geschlossen, auf dem Rücken. Drake zog sich einen Stuhl heran und nahm neben dem Bett Platz. Eine Zeitlang starrte er das abgezehrte Gesicht des anderen an. Nach einigen Minuten zuckten die Lider des Mannes, öffneten sich halb und sanken wieder herab. Drake wagte nicht zu beurteilen, ob der Kranke den Besucher wahrgenommen hatte, der ihn so intensiv beobachtete. Aber er wußte, daß der Mann zumindest halbwegs wach war. Langsam beugte er sich vor und sagte mit deutlicher Stimme in das Ohr des Kranken:
» Schtsche ne wmerla Ukraina. «
Die wörtliche Übersetzung lautet: »Die Ukraine ist nicht tot« – freier heißt es: »Die Ukraine bleibt bestehen.« Mit diesen Worten beginnt die ukrainische Nationalhymne, die, obwohl von den russischen Unterdrückern verboten, jedem nationalbewußten Ukrainer vertraut ist.
Der Kranke schlug die Augen auf und betrachtete Drake prüfend. Nach einigen Sekunden fragte er auf ukrainisch: »Wer sind Sie?«
»Auch ein Ukrainer«, antwortete Drake. Der Blick des anderen wurde mißtrauisch.
»Schnüffler!« fauchte er.
Drake schüttelte den Kopf. »Nein«, widersprach er gelassen. »Ich bin britischer Staatsbürger, in England geboren und aufgewachsen. Mein Vater war Ukrainer, meine Mutter Engländerin. Aber meiner tiefen Überzeugung nach bin ich ein Ukrainer wie Sie.«
Der Mann im Bett starrte hartnäckig die Zimmerdecke an.
»Ich kann Ihnen meinen in London ausgestellten Reisepaß zeigen, aber das wäre kein Beweis. Auch ein Tschekist könnte einen vorlegen, wenn er wollte, um Sie damit auf die Probe zu stellen.« Drake hatte den gängigen Ausdruck für sowjetische Geheimpolizisten und KGB-Agenten gebraucht.
»Aber Sie sind nicht mehr in der Ukraine, und hier gibt es keine Tschekisti«, fuhr er fort. »Sie sind nicht auf der Krim, nicht in Südrugland und auch nicht in Georgien angetrieben worden. Sie befinden sich auch nicht in Rumänien oder Bulgarien. Sie sind von einem italienischen Schiff aufgefischt und nach Trabzon gebracht worden. Sie sind in der Türkei – im Westen. Sie haben es geschafft!«
Die Augen des Mannes ruhten jetzt auf Drakes Gesicht: wach, verständig, hoffnungsvoll.
»Können Sie aufstehen?« fragte Drake ihn.
»Ich weiß nicht«, antwortete der Mann. Drake nickte zu dem kleinen Fenster hinüber, durch das Verkehrslärm hereindrang.
»Das KGB kann das Krankenhauspersonal als Türken verkleiden«, sagte er, »aber es kann keine ganze Stadt für einen Mann verändern, dessen Geständnis viel leichter durch die Folter zu bekommen wäre. Schaffen Sie es bis zum Fenster?«
Mit der Hilfe von Drake schaffte es der Schiffbrüchige, zum Fenster zu humpeln. Er blickte auf die Straße.
»Dort draußen fahren aus England importierte Austins und Morris«, sagte Drake. »Peugeots aus Frankreich und Volkswagen aus Deutschland. Die Texte auf den Plakatwänden sind türkisch. Dort drüben sehen Sie eine Coca-Cola-Reklame.«
Der Mann preßte einen Handrücken gegen den Mund und biß sich auf die Fingerknöchel. Er blinzelte mehrmals heftig.
»Ich hab’s geschafft«, murmelte er.
»Ja«, bekräftigte Drake, »wie durch ein Wunder haben Sie’s geschafft.«
»Ich heiße Miroslaw Kaminski«, sagte der Schiffbrüchige, als er wieder im Bett lag. »Ich komme aus Ternopol. Ich war der Führer einer Gruppe von sieben ukrainischen Partisanen.«
Es dauerte eine Stunde, bis er seine Geschichte erzählt hatte. Kaminski und sechs Gleichgesinnte aus dem Gebiet um Ternopol, der einstigen Hochburg des ukrainischen Nationalismus, hatten beschlossen, sich gegen die brutale Russifizierung ihrer Heimat zu wehren – gegen das in den sechziger Jahren intensivierte Programm, das in den siebziger und frühen achtziger Jahren zu einer »Endlösung« für Kunst, Literatur, Sprache und Nationalbewußtsein der Ukrainer geführt hatte. In den sechs Monaten ihrer Untergrundtätigkeit hatten sie zwei kleine Parteisekretäre – Russen, die Ternopol von Moskau aufgezwungen waren – und einen KGB-Agenten überfallen und erschossen. Dann waren sie verraten worden.
Wer immer der Verräter gewesen war – auch er war in dem Kugelhagel der KGB-Sondereinheit getötet worden, die das einsame Haus umzingelt hatte, in dem
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