Des Teufels Kardinal
China keine Reli-gionsfreiheit gab und nie geben würde. Seine Antwort darauf war einfach: Er selbst würde sie dem Land schenken. Die Zahl der Opfer war irrelevant; wer sein Leben dafür lassen mußte, starb als Märty-rer.
Capizzi und Matadi unterstützten sein Vorhaben aus offenkundigen Gründen vorbehaltlos. Da beide den Ehrgeiz hatten, Leo XIV. als Papst nachzufolgen, wäre es ausgesprochen töricht gewesen, den Mann gegen sich aufzubringen, der sie auf den Papstthron setzen konnte. Um ihrem Ziel näher zu kommen, opferten diese beiden be-denkenlos Zehntausende von Menschenleben. Und was jetzt schon grauenhaft war, würde noch weit schlimmer werden, weil der Plan vorsah, zwei weitere Seen zu vergiften.
»Wenn Sie mich bitte entschuldigen wollen…« Marsciano stand plötzlich auf, weil er wußte, was kommen würde, und die schreckliche, geradezu obszöne Heuchelei Palestrinas nicht länger ertragen konnte. Er wollte sich nicht durch sein Schweigen mitschuldig machen.
Palestrina blickte ihn überrascht an. »Ist Ihnen unwohl, Eminenz?«
Palestrinas erstaunte Reaktion zeigte Marsciano, wie weit die Geistesverwirrung des Sekretärs des Auswärtigen schon fortgeschritten war. Palestrina spielte seine Rolle so gut, daß er tatsächlich selbst glaubte, was er sagte. In diesem Augenblick existierte jene andere Seite seiner Persönlichkeit gar nicht. Das Ganze war ein geradezu klassischer Fall von Selbsttäuschung.
»Ist Ihnen unwohl, Eminenz?« wiederholte Palestrina.
»Ja«, antwortete Marsciano ruhig. Als er Palestrinas Blick für Bruchteile einer Sekunde erwiderte, machte er aus seiner tiefen Ver-achtung kein Hehl, ohne daß sonst jemand etwas davon merkte. Im nächsten Augenblick wandte er sich bereits an die Chinesen.
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»Ganz Rom betet für Ihre Landsleute«, versicherte er ihnen. Dann durchquerte er den Salon und ging mit der Gewißheit zur Tür hinaus, daß Palestrina jeden seiner Schritte beobachtete.
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Kardinal Marsciano hatte den Salon allein verlassen, aber damit endete seine Freiheit bereits. Aus protokollarischer Höflichkeit mußte er auf die anderen drei warten, und als sie jetzt wieder in der Limousine saßen, herrschte eisiges Schweigen zwischen ihnen.
Marsciano sah bewußt aus dem Fenster, während das grüne Tor sich hinter ihnen schloß, als sie auf die Via Bruxelles hinausfuhren.
Da alle Investitionen bereits getätigt waren, war sein Schicksal durch sein Verhalten im Salon der Chinesischen Botschaft so gut wie besiegelt.
Er dachte wieder an die drei Seen, von denen Palestrina gesprochen hatte. Welche beiden zu welchem Zeitpunkt an die Reihe kommen würden, wußte nur Palestrina selbst. Das Ausmaß seiner Erkrankung und seiner Grausamkeit war unbegreiflich, seine Selbsttäuschung unglaublich. Wann und wodurch hatte dieser hochangesehene, intelligente Mann sich so verändert? Oder hatte das Ungeheuer in ihm schon immer unter der Oberfläche gelauert?
Ihr Chauffeur bog jetzt auf die Via Salaria ab, in der sie bei dichtem Nachmittagsverkehr nur im Kriechtempo vorankamen. Marsciano spürte Palestrinas Gegenwart neben sich und merkte, daß Capizzi und Matadi, die ihnen gegenübersaßen, ihn nicht aus den Augen ließen. Aber er reagierte nicht auf diese Überwachung. Statt dessen dachte er an Yan Yeh, den Präsidenten der Volksbank von China, der nicht nur ein gerissener Geschäftsmann und zugleich ein prominentes Mitglied der KP Chinas und einer der wichtigsten Berater des Partei-vorsitzenden, sondern auch ein guter Freund und Humanist war. Ein Mann, der geläufig politische Platitüden äußern konnte, um im nächsten Augenblick über Gesundheitsvorsorge, Bildung und materielles Wohlergehen für Arme in aller Welt zu sprechen, denen seine besondere Sorge galt, bevor er im übernächsten Augenblick scherzhaft lächelnd vorschlug, italienische Winzer nach China zu entsenden, damit sie seine Landsleute in der Kunst der Weinherstellung unter-wiesen.
»Telefonieren Sie oft nach Nordamerika?« fragte Palestrina ihn plötzlich scharf.
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Marsciano wandte sich vom Fenster ab.
»Ich verstehe nicht, was diese Frage soll.«
»Vor allem nach Kanada.« Er starrte Marsciano weiter unverwandt an. »Nach der Provinz Alberta.«
»Ich verstehe noch immer nicht, was Sie meinen…«
»Eins-null-eins-vier vier-null-drei fünf-fünf-fünf zwo-zwo eins-eins«, sagte Palestrina auswendig auf. »Sie erkennen diese Nummer nicht?«
»Sollte ich denn?«
Marsciano spürte, wie die Limousine sich
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