Des Teufels Kardinal
»Gottverdammt!« Er hätte wissen sollen, daß Mooi den Priester versteckt hatte. Hätte gleich zurückkehren und ihn unter Druck setzen sollen, als er festgestellt hatte, daß die Außenbordmotoren noch warm waren. Aber er hatte es nicht getan, weil die Meldung über die im See aufgefundenen Toten gekommen war, so daß er dorthin fahren mußte.
Roscani verließ die Anlegestelle, damit die Spurensicherer mit ihrer Arbeit beginnen konnten, und ging den Zentralkorridor mit den alten, in den Fels gehauenen Bänken entlang zu dem Raum, in dem der Priester versteckt gewesen war. Dort waren Scala und Castelletti; dorthin war ein sterbender Carabiniere durch das Labyrinth aus unterirdischen Gängen gebracht worden, ein weiteres Opfer des Eispik-kers, von dem sie jetzt wußten, daß er blond war und Kratzer im Gesicht hatte.
»Biondo«, hatte der Carabiniere mit schon trüben Augen geflüstert, während seine Linke Scalas Hand umklammerte und seine Rechte eine Bewegung machte, als wolle er sich das Gesicht zerkratzen.
»Graffiato«, hatte er keuchend hervorgebracht, während er weiter schwache Kratzbewegungen machte. »Graffiato.«
Biondo. Graffiato.
Blond. Und stark. Und gewandt. Und offenbar mit Kratzern im Gesicht, die ihm vermutlich die Ermordete beigebracht hatte, unter deren Fingernägeln Hautfetzen entdeckt worden waren. Hautfetzen, die ins Labor eingeschickt werden konnten, um eine DNA-321
Analyse vornehmen zu lassen. Ein raffiniertes Verfahren, dachte Roscani, aber nur nützlich, wenn man einen Verdächtigen hatte, dem man für eine Vergleichsuntersuchung eine Blutprobe entnehmen konnte.
Roscani betrat den Raum, nickte Scala und Castelletti zu und ging nach nebenan, wo das wenige Gepäck der Nonne aufgefunden worden war.
Schwester Elena Voso, siebenundzwanzig Jahre, Franziskanerin aus Siena, Krankenschwester im dortigen St.-Bernhard-Krankenhaus.
Roscani ging langsam durch den Zentralkorridor ins Freie hinaus, fuhr sich mit einer Hand durch das Haar und versuchte, die Atmosphäre dieses exklusiven Zufluchtsorts in sich aufzunehmen. Eros Barbus immenser Reichtum war überall zu erkennen, aber die Leute, die sich hier versteckt hatten – eine Nonne, ein Priester und die zu ihrem Schutz mitgekommenen Männer –, waren nicht reich gewesen.
Weshalb hatte Barbu ihnen gestattet, sich hier zu verstecken?
Diese Frage konnte Barbu selbst nicht mehr beantworten. Die Roy-al Canadian Mounted Police ermittelte wegen seines angeblichen Selbstmords auf einem Bergpfad über dem Louise-See in Banff. Er sollte sich dort in den Mund geschossen haben. Aber Roscani wußte, daß das kein Selbstmord, sondern ein Mord gewesen war. Ein Komplize des blonden Eispickers hatte ihn verübt. Er hatte gewußt, wo Eros Barbu zu finden war, und ihn umgebracht, weil er Pater Daniel zur Flucht verholfen hatte, oder auch bei dem Versuch, den Aufenthaltsort des Flüchtigen aus ihm herauszubekommen. Vielleicht sogar derselbe Komplize, der Harry Addisons Boß in Kalifornien ermordet hatte. In diesem Fall war die Verschwörung viel umfassender und weitreichender, als es zunächst den Anschein gehabt hatte.
In der Ferne konnte Roscani das Bellen der Spürhunde hören, mit denen Carabinieri-Teams das Labyrinth aus Höhlen und Gängen nach Elena Voso und dem flüchtigen Priester absuchten. Und nach Harry Addison. Darauf gab es keinen Hinweis, das war lediglich seine Vermutung. Aber Roscani war sich sicher, daß der Amerikaner hiergewesen war und seinem Bruder zur Flucht verholfen hatte.
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Jetzt zog Roscani einen bereits angebissenen Schokoriegel aus der Tasche, wickelte ihn aus, biß erneut hinein und sah dabei zum Abendhimmel auf.
Hoch über ihm koordinierte ein Hubschrauber die Suchmannschaften, die jetzt das felsige Gelände oberhalb der Grotte durchkämmten.
In der Nähe des Lastenaufzugs waren zwei deutliche Fußabdrücke entdeckt worden. Und Reifenspuren ließen erkennen, daß ein Kleinlaster hergefahren, abgestellt und wieder weggefahren worden war.
Ob irgendeine dieser Spuren sie zu dem blonden Mann oder den Flüchtigen führen würde, blieb abzuwarten.
Unabhängig davon, was bisher geschehen war oder noch geschehen würde, stand eine beunruhigende Tatsache fest: Roscani hatte es nicht mehr nur mit einem flüchtigen amerikanischen Priester und seinem Bruder, sondern mit Leuten zu tun, die internationale Verbindungen hatten, sehr geschickt operierten und vor keinem Mord zurückschreckten. Und jeder, der auch nur verdächtigt
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